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Barley für mächtige Außen-EU "Die europäische Armee bleibt unsere Vision"

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Katarina Barley spricht vor zwei Wochen vor einer Statue von Willy Brandt in der gleichnamigen SPD-Zentrale.

Katarina Barley spricht vor zwei Wochen vor einer Statue von Willy Brandt in der gleichnamigen SPD-Zentrale.

(Foto: picture alliance/dpa)

Die frühere Justizministerin Katarina Barley tritt im Juni als Spitzenkandidatin der SPD bei der Europawahl an. In der kommenden Legislaturperiode möchte sie der EU mehr Kompetenzen in außenpolitischen Fragen übertragen: "Wer einen stärkeren Einfluss der EU auf die Welt fordert, muss ihr dazu auch die Mittel geben", sagt sie im Gespräch mit ntv.de. Besonders sicher fühlt sich Barley mit ihrem Parteikollegen Olaf Scholz als Bundeskanzler: "Ich halte Besonnenheit für Scholz' herausragende Charaktereigenschaft", sagt sie. Mit EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen oder gar Sahra Wagenknecht kann sie dagegen nichts anfangen.

ntv.de: Es ist das dritte Osterfest in Folge - die Orthodoxen begehen das Fest erst am 5. Mai -, an dem in Europa Krieg herrscht. Wie haben diese Jahre des Krieges die Europäische Union verändert?

Katarina Barley: Diese Jahre haben die Europäische Union fundamental verändert. In die auslaufende Legislaturperiode fällt auch die Corona-Pandemie und als Folge des russischen Angriffskrieges die Energiekrise. In Europa ist daher ein größeres Bewusstsein entstanden, dass wir stärker auf eigenen Füßen stehen müssen, seien es die Bereiche Gesundheit, Rohstoffversorgung, Digitales oder Verteidigung, zum Beispiel durch eine stärkere europäische Säule innerhalb der NATO. Einiges ist inzwischen passiert, doch wir stehen noch am Anfang.

Der Krieg im Osten verändert auch das Gesicht der EU, die nach ihrem Selbstverständnis ein Friedensprojekt ist, nun aber massiv aufrüstet und Waffen in ein Kriegsgebiet schickt. Ist die EU im ursprünglichen Sinne noch Friedensmacht oder inzwischen etwas ganz anderes?

Historisch ist die EU ein Projekt, das Frieden nach innen schaffen sollte. Sie war angelegt, die Erbfeindschaft zwischen Frankreich und Deutschland zu beenden. Und ich erinnere an den Beitritt von Großbritannien und Irland vor 50 Jahren: Die bürgerkriegsähnlichen Zustände in Nordirland zu beenden, war Beitrittsvoraussetzung. Ohne die Europäische Gemeinschaft hätte es das Karfreitagsabkommen in Nordirland wahrscheinlich nicht gegeben. Die EU hat den Friedensnobelpreis erhalten, weil ihre Mitglieder keinen Krieg gegeneinander führen. Das ist der Kern des Friedensprojekts.

Es geht nicht auch darum, Frieden in der Welt zu schaffen?

Das ist eine Aufgabe, die sich die Europäische Union zunehmend stellt. Aber das ist angesichts ihrer Kompetenzen schwierig: Für Außen- und Verteidigungspolitik sind bislang vorrangig die Mitgliedstaaten zuständig. Die EU ist als Friedensprojekt nach innen sehr erfolgreich, weshalb so viele Länder dazugehören wollen. Wer einen stärkeren Einfluss der EU auf die Welt fordert, muss ihr dazu auch die Mittel geben.

Ist das der Zustand der EU? Stark nach innen, schwach nach außen?

Die Europäische Union kann in außenpolitischen Fragen wenig tun ohne Einstimmigkeit ihrer Mitgliedstaaten. Das macht die Entscheidungsfindung komplex. Die EU kann daher nicht auf der globalen Bühne agieren wie etwa die USA. Andererseits ist diese historisch bedingte Vielfalt auch eine Stärke der EU. Die Kunst liegt darin, die unterschiedlichen Perspektiven zusammenzubinden. Wir sind uns einig, dass wir im Verteidigungsbereich mehr Zusammenarbeit brauchen. Für die kommende Legislaturperiode erwarte ich, dass ein Rat der Verteidigungsminister geschaffen wird, so wie auch die europäischen Außen- oder Finanzministerinnen regelmäßig zusammenkommen.

Viele Parteien werben für eine Verteidigungsunion, die EVP, die Liberalen und auch die europäischen Sozialdemokraten. In Ihrem Wahlprogramm findet sich auch weiter die Forderung nach einer europäischen Armee. Warum halten Sie daran fest, obwohl die Idee kaum realisierbar scheint?

In der SPD hat es Tradition, in langen Linien zu denken. Nicht nur zu fragen, was mache ich morgen, sondern was ist mein Ziel? Die europäische Armee bleibt unsere Vision. Das macht auch wirtschaftlich Sinn: Wir haben mehr als ein Dutzend Panzersysteme in Europa - was da an vermeidbaren Kosten entsteht! Im Verteidigungsbereich liegen die Mitgliedstaaten viel weiter auseinander als in anderen. Allein die Unterschiede zwischen Deutschland und Frankreich: Bei uns muss der Bundestag jedem Auslandseinsatz zustimmen, der französische Präsident kann vieles im Alleingang entscheiden. Gleichzeitig war Frankreichs Armee bis zur Zeitenwende schlagkräftiger als die Bundeswehr. Allen Seiten ist inzwischen klar, dass wir stärker zusammenarbeiten müssen.

Rückt dieses Ziel angesichts des Aufwinds für rechtspopulistische und rechtsextreme Parteien in Europa nicht in immer weitere Ferne?

Eine Erkenntnis des Zukunftsrats für Europa lautet, dass sich die Bürgerinnen und Bürger mehr Mehrheitsentscheidungen wünschen. Doch die Aufhebung des Einstimmigkeitsprinzips kann nur einstimmig erfolgen. Das gibt notorischen Quertreibern wie der ungarischen Regierung die Möglichkeit, grundsätzlich immer und überall einen Stock zwischen die Speichen zu werfen. Dennoch glaube ich, dass wir zu mehr Mehrheitsentscheidungen kommen werden. Die nächste Erweiterungsrunde ist in diesem Sinne ein Gelegenheitsfenster: Allen ist klar, dass die EU sonst nicht weiter funktionieren kann.

Wird die Dynamik hin zu einer gemeinsamen Verteidigung der EU auch durch eine mögliche erneute Präsidentschaft von Donald Trump befördert, der damit droht, Europa nicht länger nuklear zu schützen?

Diese Entwicklung hat vorher eingesetzt, wie das Beispiel der deutsch-niederländischen Verteidigungskooperation zeigt. Zugleich haben schon frühere US-Regierungen ihren Fokus immer stärker auf Asien und den pazifischen Raum gelegt. Das ist ein Trend, mit dem wir umgehen müssen - unabhängig vom Ausgang der kommenden Präsidentschaftswahl in den USA. Ein Sieg der Demokraten würde mich dennoch sehr erleichtern.

Wie soll ein eigener europäischer Pfeiler in der NATO entstehen, ohne die transatlantische Zusammenarbeit zu schwächen?

Er würde sie nicht schwächen, im Gegenteil: Schon mehrere US-Regierungen, nicht nur Trump, haben einen höheren finanziellen Beitrag Europas für die gemeinsame Sicherheit gefordert, Stichwort Zwei-Prozent-Ziel. Das wäre also kein Gegeneinander, zumal auch Washington Interesse an einem Ansprechpartner Europa hat, anstatt alle 27 EU-Regierungsländer einzeln abzutelefonieren.

Ein anderer Aspekt der stärkeren strategischen Autonomie betrifft die Partnerschaften mit Drittstaaten. EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen hat gerade eine stärkere Zusammenarbeit mit Ägypten vereinbart. Präsident al-Sisi hat eine furchtbare Menschenrechtsbilanz, wird aber regelrecht hofiert in Europa. Wo ziehen Sie als SPD-Spitzenkandidatin für die Europawahl die rote Linie, bis wohin die EU auch mit Diktaturen kooperieren darf?

Abstrakt rote Linie zu ziehen, ist schwer. Denn Tatsache ist, wir haben mehr Autokratien und Diktaturen auf der Welt als Demokratien. Die Demokratien werden zuletzt sogar weniger, weshalb wir kaum etwas bewegen können, wenn wir nur mit gleich gesinnten Staaten kooperieren.

Und was ist Ägypten für ein Fall? Das Land ist ein Schlüsselakteur im Nahen Osten, aber eben ein Folterstaat.

Die Menschenrechtslage in Ägypten ist dramatisch. Als einziger Nachbarstaat des Gazastreifens neben Israel muss man in der aktuellen Situation aber mit Ägypten reden. Generell sehe ich aber die Herangehensweise von Frau von der Leyen sehr kritisch. Da steht keine Strategie hinter. Nicht einmal die Kommission selbst wird vorher informiert. Ähnlich war sie schon bei ihrer Reise nach Tunesien vorgegangen: Deutschland und Frankreich wären da gerne mehr eingebunden gewesen, stattdessen reisten aber der Konservative Mark Rutte aus den Niederlanden und Italiens Regierungschefin Giorgia Meloni mit, hinter deren demokratische Überzeugungen ich ein großes Fragezeichen setze.

Die kommende Europawahl entscheidet indirekt auch über das Schicksal der Ukraine. Es geht um ihren EU-Beitritt, um finanzielle und militärische Hilfe. Welche Chancen und Risiken gehen mit dem 9. Juni für Kiew einher?

Die Unterstützung der Ukraine hat eine klare Mehrheit im EU-Parlament, in der Kommission und im Rat. Völlig anders ticken da vor allem Parteien, die von Putin direkt oder indirekt unterstützt werden: die AfD, Le Pen und die vielen anderen Rechtsaußenparteien. Hinzu kommen Stimmen der Verirrten wie die Wagenknechts dieser Welt, die ihre Fehleinschätzung bezüglich Putin immer noch nicht einräumt. Ich gehe fest davon aus, dass die Mehrheit für die Ukraine nach der Europawahl weiter steht.

Ihre SPD versteht sich traditionell als Friedenspartei, wirkt aber in den vergangenen Wochen zerrissen, ob die Ukraine mehr militärische Unterstützung erhalten sollte oder ob es nicht an der Zeit für mehr diplomatische Anstrengungen ist. Woher rührt diese Vielstimmigkeit?

Als Volkspartei bilden wir eine gewisse Spannbreite der Meinungen ab. Über die grundsätzliche Linie sind wir uns einig, vor allem darin, dass allein die Ukraine über das Ob und die Bedingungen von Verhandlungen mit Russland entscheidet. Ich bin auch auf Friedensdemos mitgelaufen. Aber: Frieden ist mehr als die Abwesenheit von Krieg. Es reicht nicht, die Waffen schweigen zu lassen. Die Ukraine hat das Recht auf Freiheit.

Dennoch ist das Spektrum der Meinungen innerhalb der SPD groß, von Ralf Stegner, der mehr Diplomatie statt weiterer Waffen fordert, bis Michael Roth, der für die Lieferung des Marschflugkörpers Taurus wirbt. Wo stehen Sie als SPD-Spitzenkandidatin in diesem Spektrum?

Ich stehe sehr nahe beim Bundeskanzler, mit dem ich mich auch eng abstimme. Olaf Scholz' Besonnenheit hat uns gut durch diese Zeit gebracht. Es ist seine Art, die Dinge zu durchdenken und gleichzeitig auch mit den Experten zu diskutieren, um dann zu einer Entscheidung zu kommen. Ich fühle mich mit Olaf Scholz als Regierungschef sehr sicher, auch wenn ich nicht in alle Abläufe eingebunden bin. Deutschlands Unterstützung der Ukraine ist absolut richtig, auch in ihrem sehr großen Umfang.

Das Wort Besonnenheit ist immer häufiger von Sozialdemokraten zu hören. Ist das die Strategie? Die Menschen sollen SPD wählen, weil der Kanzler Deutschland sie aus dem Schlimmsten herausgehalten hat?

Diese Zuschreibung hören Sie von mir schon lange, ich halte Besonnenheit für Olaf Scholz' herausragende Charaktereigenschaft. Wenn ich etwa die aggressiven Aussagen von anderen höre, bin ich froh, dass diese existenziellen Entscheidungen nicht in deren nervösen Händen liegen. Wäre es nach manchem und mancher gegangen, wären schon im April 2022 die russischen Gasimporte gestoppt worden. Putins Strategie wäre aufgegangen und wir hätten einen kalten Wut-Winter erlebt. Die Zustimmung zur Unterstützung der Ukraine wäre binnen kurzer Zeit gen Null gesunken.

Mit Katharina Barley sprachen Sebastian Huld und Lea Verstl

Quelle: ntv.de

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