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NATO-Krieg begann vor 25 Jahren Der Kosovo-Einsatz war "die eigentliche Zeitenwende"

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Ab dem 24. März 1999 griff die NATO zunächst militärische, dann auch zivile Ziele an, hier in Belgrad.

Ab dem 24. März 1999 griff die NATO zunächst militärische, dann auch zivile Ziele an, hier in Belgrad.

(Foto: ASSOCIATED PRESS)

Vor 25 Jahren startete Deutschland den ersten Kriegseinsatz seit dem Zweiten Weltkrieg. Der Eingriff der NATO in den Kosovokrieg sollte eine humanitäre Katastrophe verhindern. Doch er ist umstritten, aus völkerrechtlichen Gründen. Seine Folgen sind bis heute zu spüren.

"Heute Abend hat die NATO mit Luftschlägen gegen militärische Ziele in Jugoslawien begonnen. Damit will das Bündnis weitere schwere und systematische Verletzungen der Menschenrechte unterbinden und eine humanitäre Katastrophe im Kosovo verhindern." Am 24. März 1999 wendet sich Bundeskanzler Gerhard Schröder in einer Fernsehansprache an die deutsche Bevölkerung. Er berichtet vom Beginn des NATO-Einsatzes im Kosovokrieg, an dem auch Deutschland beteiligt ist. Er wird 78 Tage dauern.

25 Jahre ist diese erste deutsche Kriegsbeteiligung seit dem Zweiten Weltkrieg her. Die Anschläge vom 11. September 2001, die anschließenden Kriege in Afghanistan und im Irak - dieser ohne deutsche Beteiligung - haben den Kosovokrieg in den Hintergrund gedrängt. Dennoch: "Für Deutschland hat der Krieg eine große Bedeutung", sagt Marie-Janine Calic, Professorin für Ost- und Südosteuropäische Geschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität München, im Gespräch mit ntv.de. "Deutschland hat sich erstmals an einem Einsatz außerhalb des NATO-Bündnisgebietes beteiligt und selbst Soldaten in einen Kampfeinsatz geschickt. Für die Bundesrepublik war das ein immens großer Schritt und ich würde sagen, es war die eigentliche Zeitenwende, in der Krieg als Mittel der Politik kein absolutes Tabu mehr war."

Der NATO-Einsatz im Kosovo war die Eskalation eines seit Jahrzehnten schwelenden Konflikts um die Unabhängigkeit, der sich in den 90ern zu einem Krieg ausgeweitet hatte. "Im Kosovo gab es seit 1996/97 gewaltsame Ausschreitungen, die eskalierten", sagt Expertin Calic. Die Mitte der 90er-Jahre gegründete Befreiungsarmee des Kosovo (UÇK) unternahm Überfälle und Anschläge auf serbische Einrichtungen in dem Gebiet. "Dagegen ging Serbien mit Sonderpolizei und Militär vor", erklärt Calic. "Das eskalierte zum Krieg, es gab Massenverbrechen und Vertreibungen."

Internationale Verhandlungen scheiterten - der von der NATO ausgearbeitete Vertrag von Rambouillet wurde von Serbien nicht unterschrieben. "Die NATO hat dann argumentiert, diesen Konflikt auf militärischem Wege beenden zu müssen, um eine humanitäre Katastrophe zu verhindern." Das Bündnis habe "ein 'zweites Bosnien' verhindern" wollen, sagt Calic mit Blick auf den mehr als dreijährigen Krieg in Bosnien-Herzegowina und das Massaker von Srebrenica, das von UN-Gerichten als Genozid eingestuft wird.

Wende hin zur humanitären Intervention

Doch ein Mandat des UN-Sicherheitsrates, wie noch einige Jahre zuvor in Bosnien, hatte die NATO nicht, es gab auch keinen Bündnisfall. "Die meisten Völkerrechtler sagen, dass für einen solchen Kriegseinsatz ein eindeutiges Mandat des UN-Sicherheitsrates erforderlich gewesen wäre. Dieses gab es nicht, weil Russland als Schutzmacht Serbiens ein Veto eingelegt hätte", sagt dazu Calic. Der Sicherheitsrat hatte zwar bereits im September 1998 den serbischen Rückzug gefordert. "Ein Kriegseinsatz war durch diese Resolution aber nicht legitimiert. Dennoch hat sich die NATO später darauf berufen", erklärt Calic. Letztlich sei der Angriff eine politische Entscheidung gewesen: "Das Völkerrecht wurde dabei im besten Fall gedehnt, wenn nicht sogar verletzt."

Diskussionen über eine humanitäre Intervention zum Schutz von Menschenrechten gab es da schon länger, aber erst nach dem Kosovokrieg wurde die sogenannte Schutzverantwortung (responsibility to protect) im Völkerrecht verankert. "Der Kosovokrieg hat die Debatte um humanitäre Interventionen auf eine neue Grundlage gestellt", sagt Calic. "Seitdem erscheint es unter bestimmten Umständen legitim, zum Schutz von humanitären Rechten auch militärische Gewalt anzuwenden." Bedingung ist aber auch hier, dass der Sicherheitsrat ein Mandat erteilt. Nur einzelne Staaten wie Großbritannien halten ein Eingreifen auch ohne UN-Mandat für zulässig, wenn der Sicherheitsrat etwa wegen unterschiedlicher Interessen blockiert ist.

Doch kritisiert wird die deutsche Beteiligung am Kosovokrieg nicht nur, weil die klare rechtliche Grundlage fehlte, sondern auch wegen der Darstellung durch die Bundesregierung. Verteidigungsminister Rudolf Scharping von der SPD sprach von Konzentrationslagern, Massenexekutionen und schilderte auf drastische Weise ethnische Säuberungen durch die Serben. Auch Gräueltaten wie das Massaker von Račak im Januar 1999 und der Rogovo-Vorfall mit jeweils Dutzenden getöteten Kosovo-Albanern - deren Umstände bis heute nicht vollständig aufgeklärt sind - wurden als Begründung für den Kriegseintritt herangezogen.

Außenminister und Vizekanzler Fischer wurde auf dem Grünen-Sonderparteitag von einem Farbbeutel getroffen.

Außenminister und Vizekanzler Fischer wurde auf dem Grünen-Sonderparteitag von einem Farbbeutel getroffen.

(Foto: dpa)

"Nie wieder Auschwitz, nie wieder Völkermord", sagte der damalige Außenminister Joschka Fischer, um die Zustimmung seiner Grünen zur deutschen Kriegsbeteiligung zu bekommen - da hatte der NATO-Einsatz aber schon begonnen. Auf dem hitzigen Sonderparteitag verletzte ihn ein Farbbeutel am Ohr, am Ende bekam er die Mehrheit. Sein Auschwitz-Vergleich stieß jedoch auf Kritik.

Scharfe Kritik erntete Scharping, als er einen Hufeisenplan der serbischen Regierung vorbrachte, der die systematische Vertreibung der Kosovo-Albaner zum Inhalt gehabt haben soll, dessen Existenz aber bis heute nicht bewiesen ist. Auch an anderen Darstellungen des Ministers gab es nun Zweifel. "Ich weiß jetzt nicht, ob es diesen oft zitierten Hufeisenplan gegeben hat", sagte der österreichische Diplomat Wolfgang Petritsch 2019 dem Deutschlandfunk. Er war 1999 EU-Sonderbeauftragter für das Kosovo. "Aber wenn man sich das im Nachhinein anschaut, wie methodisch und systematisch [Serbien] dort vorgegangen ist, dann muss man sagen: Da hat es sicherlich, und das ist ja auch das Wesen des Militärs, Planungen gegeben."

Militärische und zivile Ziele

Hunderttausende Kosovo-Albaner wurden durch die Serben vertrieben.

Hunderttausende Kosovo-Albaner wurden durch die Serben vertrieben.

(Foto: Sueddeutsche Zeitung Photo)

Ohne Frage gingen die serbischen Truppen im Kosovo brutal vor, es gab Kriegsgräuel und Vertreibungen von Hunderttausenden Menschen. Doch drohte ein Genozid, wie von der Bundesregierung angedeutet? "Ich bin vorsichtig mit dem Begriff des Völkermordes", sagt Expertin Calic. "Wenn man die Definition der Vereinten Nationen zugrunde legt, würde ich nicht von Völkermord sprechen. Denn den Serben ging es nicht darum, alle Kosovo-Albaner zu töten oder sie als Gruppe zu vernichten, sondern sie sollten entweder den Kosovo verlassen oder die serbische Herrschaft akzeptieren." Weiter gefasste Definitionen des Völkermords hält sie nicht für sinnvoll, "weil die Begrifflichkeit sehr unscharf wird, wenn jede Form von Massengewalt darunter subsumiert wird".

Ob Kriegsverbrechen und Vertreibungen ohne ein Eingreifen der NATO noch zugenommen hätten, lässt sich nicht sagen, denn am Abend des 24. März 1999 begann die Bombardierung militärischer, später auch ziviler serbischer Ziele durch US- und britische Bomber. Die Bundeswehr steuerte Tornado Recce zur Luftaufklärung und Tornado ECR zur Bekämpfung der Flugabwehr bei. Angegriffen wurden Kommandozentren, Luftabwehrstellungen, aber auch Chemiewerke - wodurch massenweise Giftstoffe austraten -, Kraftwerke - wodurch die Stromversorgung in Teilen des Landes ausfiel -, das Gebäude des serbischen Rundfunks - wo 16 Zivilisten starben - , oder das Innenministerium.

Bei einem Angriff am 7. Mai wurde die chinesische Botschaft in Belgrad getroffen, was großen politischen Schaden anrichtete. Die NATO sprach von einem Versehen. Immer wieder starben bei Luftangriffen Zivilisten, etwa bei der Zerstörung der Brücke bei Varvarin. Scharf kritisiert wurden zudem der Einsatz von Streubomben und die Verwendung von Uranmunition. Geradezu einen Aufschrei gab es, als ein NATO-Sprecher die toten Zivilisten als "Kollateralschaden" bezeichnete - der Begriff wurde zum Unwort des Jahres. Die Schätzungen der Opfer gehen weit auseinander: Serbien behauptete, es habe 2000 bis 3000 zivile Opfer gegeben, Human Rights Watch sprach von höchstens 528. Ähnlich unklar ist die Zahl der in dem Krieg getöteten Kosovo-Albaner, die UNO geht von 10.000 Opfern aus.

Der Krieg dauerte länger als die NATO wohl angenommen hatte, denn Serbien lenkte keineswegs ein, auch nicht nach der massiven Ausweitung der Luftangriffe, die wegen militärischer Fehler der NATO und ziviler Opfer auch im Westen zunehmend auf Kritik stießen. Doch daneben gab es Verhandlungen: Am 3. Juni 1999 war der jugoslawische Präsident Slobodan Milošević, der starke Mann in Serbien, schließlich zur Erfüllung der NATO-Auflagen bereit, ab dem 10. Juni zogen sich die jugoslawischen Truppen aus dem Kosovo zurück - mit ihnen flohen Hunderttausende Menschen aus Angst vor Racheakten. Resolution 1244 des UN-Sicherheitsrates regelte am selben Tag die vorübergehende Übernahme der Verwaltung durch die UN sowie die Stationierung der KFOR-Truppen, die heute noch mehr als 4000 Soldaten auch aus Deutschland umfassen.

Ein unbefriedigender Kompromiss

Russland, das als Schutzmacht Serbiens den Krieg scharf kritisiert hatte, spielte dabei "eine nicht ganz unkonstruktive Rolle", wie es Calic ausdrückt. "Man darf Russlands Rolle nicht unterschätzen, denn es hat Druck ausgeübt, damit Belgrad dem Kompromiss zustimmte." Damals habe es noch eine gewisse Kooperation zwischen den USA, europäischen Staaten und Russland in der Befriedung des Balkanraumes gegeben. "Dies brach erst ab, als sich das Kosovo 2008 unilateral für unabhängig erklärt hat", so Calic. Russland deutete dies als Bruch des Völkerrechts - der Internationale Gerichtshof sah das anders. Russlands Machthaber Wladimir Putin nutzte den Kosovokrieg, um 2014 Parallelen zur Annexion der Krim zu ziehen.

Insgesamt nennt Calic den damals erzielten Kompromiss pragmatisch, aber unbefriedigend, weil er allen Seiten das versprach, was sie wollten: die Selbstregierung des Kosovo mit dem Ziel der Unabhängigkeit und zugleich die Wahrung der territorialen Integrität Jugoslawiens beziehungsweise Serbiens. "Dieser widersprüchliche Kriegsausgang ist auch mit dafür verantwortlich, dass der Kosovo-Konflikt bis heute schwelt."

Entsprechend präsent ist der Krieg noch in Serbien, nicht nur wegen noch heute zu sehenden Zerstörungen. "Viele Menschen haben den Krieg noch selbst erlebt, für viele war das eine traumatische Erfahrung", erklärt Calic. Die Angriffe auf die zivile Infrastruktur hätten viele Menschen als ungerecht empfunden. Zudem werde der NATO-Einsatz von nationalistischen Kreisen propagandistisch ausgeschlachtet: "Sie mobilisieren gegen den Westen und argumentieren, dass das Kosovo eben doch völkerrechtlich und historisch zu Serbien gehört."

Groß ist heute noch die Skepsis gegenüber dem Westen: "Vor allem die Amerikaner, zum Teil auch die Europäer gelten als befangen und einseitig", sagt Calic. "Dennoch haben sich Serbien und Kosovo eindeutig entschieden, Mitglieder der EU werden zu wollen." Allerdings haben bis heute fünf EU-Mitgliedsländer die Unabhängigkeit des Kosovo nicht anerkannt - weil sie wie etwa Spanien selbst mit Autonomiebestrebungen zu tun haben. Zudem fordert die EU von beiden Seiten eine Normalisierung der Beziehungen, was aber nicht unbedingt die völkerrechtliche Anerkennung des Kosovo durch Serbien bedeuten muss. Ohnehin sieht Calic die EU im Moment gar nicht bereit, neue Staaten aufzunehmen: "Eigentlich ist ziemlich klar, dass sich die EU erst selbst reformieren müsste."

Quelle: ntv.de

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