Bundestag zum 9. November Özdemir: "Glaubt nicht, dass die Juden schuld sind!"


Özdemir richtete sich direkt an muslimische Jugendliche in Deutschland.
(Foto: IMAGO/dts Nachrichtenagentur)
85 Jahre nach dem Tag, an dem in Deutschland Synagogen brannten und jüdische Deutsche ermordet und verschleppt wurden, erinnert der Bundestag an diese Nacht. Die Bezüge zum Hamas-Terror und heutigen Antisemitismus dominieren die Debatte. Minister Özdemir findet starke Worte.
Es war eine Nacht des Hasses: Hunderte Menschen wurden ermordet, rund 26.000 verschleppt und in etlichen Städten wurde Feuer gelegt. Deutsche, ob in Nazi-Uniformen oder nicht, randalierten gegen jüdische Einrichtungen, machten Jagd auf Menschen, ließen der Brutalität freien Lauf. Synagogen standen in ganz Deutschland in Flammen. Der 9. November 1938 war ein Datum, an dem auch unbeteiligte Zeitgenossen nicht mehr ausblenden konnten, was Judenhass auslösen kann. Dass Unvorstellbares folgen kann.
Dem 9. November 1938 steht nun ein neues Datum gegenüber. Der 7. Oktober 2023 geht als der Tag in die Geschichte ein, an dem mehr jüdische Menschen ermordet worden sind, seit Jüdinnen und Juden millionenfach in deutschen Vernichtungslagern umkamen. So war es kein normales Gedenken an die Pogromnacht an diesem Morgen im Bundestag, das die 102-jährige Holocaust-Überlende Margot Friedländer sowie Joseph Schuster vom Zentralrat der Juden und der israelische Botschafter Ron Prosor auf dem Gästerang verfolgten. Antisemitismus grassiert wieder in Deutschland, Tausende Muslime demonstrieren gegen Israel - und bei vielen - zu vielen - geht das einher mit einem gedankenlosen, stumpfen Hass auf Juden, weil sie Juden sind.
Die Redner im Bundestag hielten diesen Demonstranten klare Botschaften entgegen: "Wir stehen fest an der Seite Israels. Dieser Tage darf es kein 'Aber' geben", sagte Innenministerin Nancy Faeser. "Wer Menschen angreift, Massenmord rechtfertigt und Freiheitsrechte missbraucht, kann sich nicht auf den Schutz der Meinungsfreiheit berufen, nein!" Stattdessen sollten sie die "ganze Härte des Rechtsstaates" zu spüren bekommen. "Unsere Demokratie toleriert keinerlei Judenhass."
Auftritt Özdemir
Ausgerechnet der Landwirtschaftsminister fand die vielleicht eindringlichsten Worte. Cem Özdemir wandte sich direkt an die jungen Männer, über die gerade viel geredet wird - Muslime, die durch deutsche Straßen ziehen und gegen Israel hetzen. "Lasst euch nicht vor den Karren der Hamas, Islamischer Dschihad oder Hisbollah spannen", rief der Grünen-Politiker ihnen zu. "Glaubt nicht, dass die Juden schuld sind!"
Es sei die Hamas, die die Menschen in Geiselhaft nehme. Sie brauche das Leid der Menschen. "Sie missbrauchen euch als nützliche Idioten. Es wird Freiheit für die Palästinenser nur mit, niemals gegen Israel geben", so der Sohn türkischer Einwanderer. Wer über die Vertreibung von Palästinensern rede, dürfe über die Vertreibung von Juden aus arabischen und muslimischen Ländern nicht schweigen. Es sei in Ordnung, die israelische Regierung zu kritisieren. Nicht in Ordnung seien aber "Sympathien für Hamas, sich über tote Juden zu freuen, Lehrern und Polizisten keinen Respekt zu zeigen". Und: "Wer damit ein Problem hat, muss künftig ein Problem haben!"
Özdemir wandte sich gegen Antisemitismus in jeder Form. "Wenn er von links kommt, heißt es, das sei antikolonialer Befreiungskampf", sagte er. Manche Linke seien aber daran gescheitert, Menschlichkeit zu zeigen. Gehe Antisemitismus von Muslimen aus, heiße es, das habe mit dem Islam nichts zu tun. Dabei zeigten Studien, wie weit verbreitet Antisemitismus unter Muslimen sei. Wenn Rechtsextreme nun so täten, als gäbe es keinen Antisemitismus bei ihnen, sei das absurd. Wenn muslimische Verbände erst auf Nachfrage Antisemitismus auf Deutsch verurteilten, aber dann auf Türkisch und Arabisch das Gegenteil sagten, dürfe das nicht mehr durchgehen.
Beifall bekam Özdemir auch von der Opposition. Der CDU-Abgeordnete Christoph de Vries dankte dem Minister für seine Worte, fügte aber spitz hinzu: "Wir wünschen uns, dass die zuständigen Minister das auch zu ihrer Politik machen."
Dröhnendes Schweigen
AfD-Politikerin Beatrice von Storch schlug mit dem rhetorischen Holzhammer auf Muslime in Deutschland ein, sprach von Hunderttausenden Männern, die jung und aggressiv und vom Hass auf Juden erfüllt seien. FDP-Fraktionschef Christian Dürr hielt ihr entgegen, die AfD sei die einzige Partei, gegen deren Abgeordnete wegen antisemitischer Straftaten ermittelt werde.
CSU-Politikerin Dorothee Bär kritisierte, dass in der Kunst- und Kulturszene der Hamas-Terror zu wenig kritisiert worden sei. Sie griff das Wort vom "dröhnenden Schweigen" auf und erinnerte an den Antisemitismus-Skandal auf der Kasseler Documenta. Sie dankte aber auch dem Pianisten Igor Levit für sein geplantes Solidaritätskonzert. Der nach eigenem Bekunden "linke" SPD-Politiker Helge Lind stellte sich leidenschaftlich gegen "Indifferenz und relativierendes Gemurmel" in "manchen Kultureinrichtungen".
Dass nicht nur unter Muslimen Antisemitismus verbreitet ist, rief Linken-Fraktionschef Dietmar Bartsch in Erinnerung. Die Kirchen hätten diesen jahrhundertelang in Deutschland geschürt. "Deutschland hat die Auslöschung der Juden industrialisiert", sagte er. "Dieses Menschheitsverbrechen darf nicht in Vergessenheit geraten." Und, so fügte er hinzu, die Hamas hat nicht den Anschlag in Halle begangen. Am 9. Oktober 2019 hatte der Rechtsextremist Stephan B. zwei Menschen ermordet - nachdem er gescheitert war, in eine verschlossene Synagoge einzudringen. Auch antisemitische Tendenzen von Corona-Leugnern, die mit Judensternen durch die Straßen zogen und im Netz von einer jüdischen Verschwörung fabulierten, erwähnte er - ebenso wie das rechtsextreme, den Judenmord lächerlich machende Flugblatt, das im Schultornister von Freie-Wähler-Chef Hubert Aiwanger gefunden wurde.
Quelle: ntv.de