
Das Brandenburger Tor in den französischen Nationalfarben - blau, weiß, rot.
(Foto: REUTERS)
Syrer, Iraner und Deutsche, Christen, Muslime und Juden versammeln sich in Berlin zu einer Mahnwache für die Toten von Paris. Ein Imam singt, im Publikum wehen israelische Flaggen. Und Bundespräsident Gauck sagt: "Wir alle sind Deutschland!"
"Wisst ihr, was hier los ist?", fragt ein junger Mann zwei spanische Touristinnen vor dem Brandenburger Tor. Keine Antwort; zu sehr sind die Frauen damit beschäftigt, ein Selfie aufzunehmen.
Beim zweiten Versuch hat er mehr Glück. "Es ist eine Mahnwache, die muslimischen Verbände wollen deutlich machen, dass der Islam nichts mit dem zu tun hat, was da in Frankreich passiert ist", doziert einer von denen, die sich bereits früh auf dem Pariser Platz eingefunden haben. "Die Bundeskanzlerin kommt, der Bundespräsident hält eine Rede." Klingt offenbar nicht so spannend - der junge Mann zieht weiter.
Am Ende werden es laut Polizei immerhin 10.000 Menschen sein, die zu der Veranstaltung kommen - deutlich weniger als die halbe Million, die vor einem halben Jahr den Fußball-Weltmeistern zugejubelt hat, als diese ihr "So gehen die Deutschen" auf der anderen Seite des Brandenburger Tores aufführten.
Aber immerhin, der Pariser Platz, an dem auch die französische Botschaft liegt, ist gut gefüllt. Einer der Zehntausend ist ein Deutsch-Syrer, der seit fast 50 Jahren in Deutschland lebt. "Ich bin gekommen, um zu zeigen, dass die Menschen zueinanderstehen", sagt der 67-Jährige.
Dann erzählt er, dass er im vergangenen Jahr in Syrien gewesen sei und dort eine Kugel in den Hals bekommen habe. Ohne den syrischen Machthaber Baschar al-Assad, glaubt der Mann, hätte es die Terrorserie in Paris nicht gegeben. "Solange er an der Macht ist, werden die Extremisten in Europa Anschläge verüben. Erst wenn Assad besiegt und abgesetzt ist, gibt es Frieden."
"Das muss man aushalten"
Auch der 56-jährige Ali steht vor allem wegen der Situation in seinem Heimatland auf dem Pariser Platz. Erst vor wenigen Monaten sei er nach Deutschland geflohen, noch spricht er kaum Deutsch, ein Bekannter muss übersetzen. Zwölf Jahre lang habe er im Iran im Gefängnis gesessen. Jetzt hält er die alte iranische Staatsflagge in den Händen, die nach der islamischen Revolution abgeschafft worden war, und setzt sich für Meinungsfreiheit ein. Denn die Ideologie, die hinter den Attentaten von Paris stehe, sei die gleiche wie die im Iran.
Was hält er von den Mohammed-Karikaturen, die "Charlie Hebdo" immer wieder abgedruckt hat? "Karikaturen sind nicht immer angenehm", sagt Ali, der im Iran als Lehrer gearbeitet hat. "Aber das muss man aushalten."
"Eigentlich wollten wir ins Theater gehen"
Michael Groys, der Leiter des jüdischen Studentenzentrums in Berlin, trägt einen Schal in den Farben der israelischen Flagge um den Hals, der Davidstern ist gut zu erkennen. "Wir wollen als Juden ein Zeichen der Solidarität mit unseren muslimischen Brüdern und Schwestern setzen", sagt er, der mit zwei Freunden gekommen ist. Findet er, dass die Muslime sich stärker vom Extremismus distanzieren müssten? "In einer freien Gesellschaft sollte niemand etwas müssen", antwortet der 23-Jährige.
Die Veranstaltung beginnt mit feierlichen, fremdartigen Klängen. "Das ist doch jetzt jüdischer Gesang, oder?", fragt eine Frau ihre Begleiter. Sie habe an diesem Abend eigentlich mit ihrem Mann ins Theater gehen wollen, "aber wir dachten, wir müssen hier hin".
Jüdisch ist der Gesang nicht; es ist ein Imam, der Verse aus dem Koran singt. Unter anderem den 32. Vers der fünften Sure, den ein Redner im Anschluss übersetzt: "Aus diesem Grunde haben wir den Kindern Israels vorgeschrieben: Wer ein menschliches Wesen tötet, ohne dass es einen Mord begangen oder auf der Erde Unheil gestiftet hat, so ist es, als ob er alle Menschen getötet hätte."
"Wie diese Pegida-Typen"
Der 17-jährige Frederik ist "aus Solidarität und politischem Interesse" gekommen. Gerade in Zeiten wie diesen sei der Dialog zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen wichtig. Ihn ärgert es, wenn Muslime sich selbst ausgrenzen und ausgegrenzt werden - "wie von diesen Pegida-Typen". Sein Opa sei ein Muslim, seine Oma "erzkatholisch", trotzdem hätten die beiden geheiratet. Hat das geklappt? "Ja, das klappt immer noch", lacht Frederik, der sich als Atheist bezeichnet.
Im Publikum wehen neben den iranischen auch arabische, türkische und israelische Fahnen. Von den Pegida-Typen ist keiner zu sehen, aber in gewisser Weise sind sie trotzdem da. In seiner Rede sagt Bundespräsident Joachim Gauck über die Veranstaltung: "Das ist ein patriotisches Ja zu dem Land, in dem wir gemeinsam leben", wobei er das erste Wort dieses Satzes - das "Das" - ein wenig betont. "Wir alle sind Deutschland!", sagt Gauck auch. Der Vorsitzende des Zentralrats der Muslime, Aiman Mazyek, hatte dies zuvor ebenfalls gesagt.
Einer 50-Jährigen, die vor vier Jahrzehnten aus der Türkei nach Deutschland gekommen ist, gefällt vor allem dieser Satz des Bundespräsidenten: Wir alle sind Deutschland. "Nicht alles, was ein Kopftuch trägt, ist Terrorist", sagt sie noch. Sie engagiere sich ehrenamtlich, sie leiste viel für diesen Staat, "aber ich werde immer noch als Ausländerin angesehen". Dann muss sie los, ihren Freundinnen hinterher.
Am Ende der Kundgebung ruft Mazyek dazu auf, einander unterzuhaken, um ein Zeichen des Zusammenhalts zu geben. Auf der Bühne treten die Ehrengäste Arm in Arm nach vorn, Bundeskanzlerin Angela Merkel zwischen Mazyek und SPD-Chef Sigmar Gabriel. So gehen die Deutschen. Im Publikum macht ihnen das, soweit erkennbar, niemand nach. Es sind eben Deutsche.
Quelle: ntv.de