Kindesmisshandlung Ärzte scheuen Diagnose
09.10.2008, 13:23 UhrErst schlagen die Eltern zu, dann schauen die Ärzte nicht genau hin: Kinderkliniken und Praxen schreckten zu häufig vor der harten Diagnose Kindesmisshandlung zurück, warnt der Frankfurter Kinderneurologe Gert Jacobi. Bis 1998 war er 30 Jahre lang leitender Arzt an der Frankfurter Uni-Klinik. Jetzt hat er ein Fachbuch herausgegeben, um Ärzten, Sozialarbeitern und Richtern zu helfen, Misshandlungen zu erkennen und richtig zu handeln. "Ich wünschte, meine Kollegen wären weniger leichtgläubig", sagte Jacobi bei einer Tagung des Frankfurter Kinderschutzbundes und der Kinderhilfe-Stiftung.
Neben dem Wissen über Krankheitsbilder fehlten den Medizinern Skepsis und Zivilcourage gegenüber den Eltern, sagt Jacobi. Mit Rechtsmedizinern und Juristen mahnt er ein entschiedeneres Eingreifen bei Kindesmisshandlung an. Die Mitautorin des Fachbuches, Constanze Niess vom Frankfurter Zentrum für Rechtsmedizin, kennt Fälle, in denen Brandmale von Zigaretten als Windpocken-Narben durchgingen. Die Rechtsmediziner würden zu selten alarmiert.
Misshandlungen nicht erkannt
Seit 1995 lagen auf den Tischen der Frankfurter Rechtsmedizin 15 tödlich misshandelte Kinder. Gerichtsmediziner Hansjürgen Bratzke berichtet, auch bei toten Kindern werde nicht genau genug hingeschaut: "Es wird immer weniger obduziert." Manche Misshandlung, etwa bei erstickten Säuglingen, werde darum nicht erkannt. Erschwerend sei, dass die Polizei immer andere Beamte in Fällen gequälter Kinder einsetze. "Es werden immer wieder Anfängerfehler gemacht", sagt Bratzke. Für den Frankfurter Kinderschutzbund-Vorstand und Rechtswissenschaftler Ludwig Salgo ist das kein lokales Problem. "Wir wissen über die Todesfälle sehr wenig", sagt er mit Blick auf ganz Deutschland. Nötig wären eine Fehleranalyse und eine gemeinsame Strategie aller Beteiligten.
Öffentlich stark beachtete Fälle von Misshandlung sorgen den Experten zufolge inzwischen für ein Umdenken. Die Zahl gemeldeter Verdachtsfälle steigt. Die Frankfurter Rechtsmediziner sind 2008 bereits 14 Mal angefordert worden, um verletzte Kinder zu begutachten, darunter viermal von einem Jugendamt. In den vergangenen Jahren hatten sie im ganzen Jahr nur zehn solcher Einsätze. Jacobi rät Kollegen, Kinder-Röntgenärzte einzubeziehen. Sie können erkennen, ob Knochenbrüche von Misshandlungen stammen.
Die Zahl der jedes Jahr in Deutschland misshandelten Kinder schätzt Jacobi auf bis zu 180.000. Er selbst hat über 200 schwer gequälte Kinder behandelt und begutachtet. Daraus hat er die Lehre gezogen, dass solche Kinder, wenn sie zum Arzt gebracht werden, nicht das erste Mal gelitten haben. "Kindesmisshandlung ist ein Wiederholungsereignis", mahnt Jacobi.
Frank van Bebber, dpa
Quelle: ntv.de