Schwerwiegendes Problem Die Last mit XXL-Patienten
31.05.2012, 11:41 Uhr
Allein in Hamburg hat sich die Zahl extrem übergewichtiger Patienten seit 2004 verzwanzigfacht.
(Foto: picture alliance / dpa)
Die Zahl der Übergewichtigen steigt, viele Krankenhäuser rüsten um: Schwerlastbetten, größere OP-Schleusen, breitere Türen und tragfähigere Toiletten. Doch bisher sind nur ausgewiesene Adipositas-Zentren auf schwerste Fälle wirklich vorbereitet, denn sie behandeln Adipöse fachübergreifend.
Wenn Rettungssanitäter ausrücken, haben sie es immer öfter mit Patienten zu tun, die über 150 Kilo wiegen. Wehrführer Uwe Kuhlmann von der Hamburger Berufsfeuerwehr kann von zahlreichen Einsätzen berichten: Seine Männer hievten Hilfsbedürftige aus dem Dachgeschoss, wuchteten sie in Bergetüchern durch Treppenhäuser. Manchmal, wenn der Platz nicht ausreichte, wurde der Kran des technischen Hilfswerks eingesetzt. Oft gelang die Rettung nur durch das Fenster.
Allein in der Hansestadt hat sich die Zahl extrem übergewichtiger Patienten seit 2004 verzwanzigfacht. Hamburg investierte, wie viele andere Städte und ländliche Regionen auch, in Schwerlasttransporter. Breitere Rettungsfahrzeuge mit absenkbarer Hydraulikrampe, belastbaren Spezialtragen und automatisch verstellbaren Tragetischen. XXL-Patienten mit einem Gewicht bis zu 380 Kilogramm können damit transportiert werden.
Es ist nur ein Beispiel von vielen, das zeigt: die Gesundheitswirtschaft rüstet auf, denn die Patienten von morgen werden noch öfter viel schwerer sein. Das Straßenbild zeigt im Frühsommer deutlich: Es quillt und schwabbelt überall. Statistiken belegen den Trend: Eine Millionen Deutsche haben einen BMI über 40, sind in den meisten Fällen adipös. 16 Millionen Deutsche haben einen BMI von 30, sind übergewichtig, in den kommenden sechs Jahren sollen es 24 Millionen Übergewichtige in Deutschland sein.
Literweise Körperfett
Die Ursachen sind bekannt: zu wenig Bewegung, zu süße und zu fettige Nahrung. Mit den Folgen kämpfen nicht nur Rettungssanitäter, auch Krankenhäuser und niedergelassene Ärzte stehen vor Herausforderungen: Standardrollstühle sind ebenso wenig geeignet wie herkömmliche OP-Hemden oder Blutdruckmanschetten. Auch diagnostische Geräte, Spritzen oder Beatmungsmaschinen sind für Kranke mit 200 oder mehr Kilogramm nicht ausgelegt. Besonders beleibte Körper passen auch nicht mehr in Computer- und Kernspintomographen. Ultraschall durchdringt das Gewebe Fettleibiger nicht mehr tief genug. Ärzte und Schwestern ächzen bei dicken Patienten während chirurgischer Eingriffe. Offene Operationen am Bauch beispielsweise werden für Ärzte zur Tortur, weil literweise Körperfett die Leber oder Niere umwabert.
Oberarzt Beat Müller hat sich auf solche Patienten spezialisiert. Der Schweizer arbeitet seit acht Jahren an der Uniklinik Heidelberg. Dort ist man auf schwer Übergewichtige vorbereitet: Es gibt es Patientenlifte zu den Duschen, Schwerlastbetten, größere OP-Schleusen, Spritzen mit extra langen Nadeln. Eingriffe wie Magenbypass oder Schlauchmagen werden im Akkord durchgeführt. "Im Vergleich zu anderen Ländern hinkt Deutschland bei der Bekämpfung von starkem Übergewicht trotzdem hinterher", sagt Müller. Zwar würden immer mehr Krankenhäuser Adipositas-Chirurgie anbieten, um im Geschäft mitzumischen. Sinnvoll sei es aber eher, mehr Spezialkliniken zu bilden.
Eine Million Adipöse

Einer Studie zufolge soll die Selbstmordrate bei Patienten mit Magenband oder Magenbypass zehn Mal so hoch sein wie bei einem nicht operierten Menschen mit ähnlichem Gewicht.
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28 zertifizierte Adipositas-Zentren gibt es bereits in Deutschland. "Hier steht der interdisziplinäre Ansatz im Vordergrund", sagt Müller. Um Adipöse zu behandeln, braucht es nicht Spezialisten für Hormonstörungen, Psychologen, Ernährungsberater und speziell geschultes Pflegepersonal. Es sei die fachübergreifende Behandlung Betroffener, die zertifizierte Zentren auszeichne, so Müller. "Oft spielen Gewohnheiten oder seelische Probleme eine große Rolle", sagt Müller. "Betroffene brauchen eine lebenslange Unterstützung."
Doch nur rund 5000 stark Übergewichtige werden pro Jahr behandelt und das bei einer Million adipöser Menschen. Dabei ist es bei besonders beleibten Patienten wichtig, möglichst minimal-invasiv zu operieren, denn die Rate der Wundinfektionen, der Thrombose und der Lungenentzündung ist viel höher als bei Normalgewichtigen. Auch Vollnarkose, mahnen Experten, bergen viel höhere Risiken.
Chirurgen kritisierten in den vergangenen Jahren die starre Haltung der Krankenkassen, wenn es um die Finanzierung von Magenverkleinerungen geht. "In Deutschland hält sich nach wie vor das Vorurteil, dass Übergewichtige mit Sport und etwas mehr Kontrolle beim Essen wieder gesund werden", sagt Müller. Eine Ansicht, die auch in breiten Teilen der Bevölkerung verbreitet ist. "Nicht nur die Ärzte, auch unsere Krankenschwestern werden darauf geschult, hier umzudenken", sagt Müller.
Mehr Erfolg durch Magenverkleinerung?
Große Kassen wie die AOK, die Techniker Krankenkasse und andere, investieren noch immer lieber in Prävention, motivieren Mitglieder zu Bewegungstrainings, beraten bei der Ernährung von Kindern. Den Magen operativ zu verkleinern, das genehmigten Kassen früher nur in Ausnahmefällen.
Neuere Studien belegen, dass solche Eingriffe langfristig mehr Erfolg bei Adipösen erzielen. Etwa die SOS-Studie aus Schweden, die vor zwei Jahren ergab, dass eine künstliche Magenverkleinerung bei extrem Übergewichtigen langfristig zu niedrigerem Gewicht und bei Diabetes-Patienten zusätzlich zu deutlich besseren Blutwerten führt.
Bei vielen Kassen setzte in den letzten Jahren ein Umdenken ein. "Schwere Adipositas ist ähnlich wie eine Suchterkrankung zu bewerten", sagt Ursula Marschall, Anästhesistin und leitende Medizinerin der Barmer GEK. Dort werden Gelder für chirurgische Eingriffe am Magen immer öfter bewilligt, denn Begleiterscheinungen, unter denen Patienten leiden, würden noch teurer. Extrem Übergewichtige bekommen schnell Probleme mit der Wirbelsäule, brauchen neue Gelenk- und Hüftimplantate, sie leiden an Bluthochdruck und Diabetes. Krankenkassen, heißt es bei der Barmer GEK, suchen weiterhin nach Konzepten, die bei der Prävention ansetzen.
Quelle: ntv.de