Vor 50.000 Jahren in Afrika Die erste Sprache der Menschheit
13.11.2010, 12:30 Uhr
Von wegen "Uga, uga!": "Aja" hieß nach Merritt Ruhlen "Mutter", "Mano" hieß "Mann". Und "Tika" soll in der Ursprache das Wort für "Erde" gewesen sein.
(Foto: picture alliance / dpa)
Welches war das erste Wort, das die Menschen aussprachen? Wie hat sich die Sprache entwickelt? Der US-amerikanische Linguist Merritt Ruhlen ist der Ansicht, alle heutigen Sprachen hätten sich aus einer "Ur-Sprache" entwickelt. Für die Untermauerung seiner These zieht er nicht nur linguistische, sondern auch genetische und archäologische Argumente heran. n-tv.de spricht mit Ruhlen über seine umstrittene These, über die 27 "ersten Wörter" und über "Mama" und "Papa".
n-tv.de: Herr Ruhlen, Sie forschen nach dem Ursprung der Sprache. Wie viele Sprachen gibt es denn heute auf der Welt?
Merritt Ruhlen: Ich schätze grob, dass es um die 5000 Sprachen gibt. Andere gehen davon aus, dass es 7000 sind - aber das hängt davon ab, wie man die Sprachen abgrenzt. Normalerweise sagt man: Wenn zwei Sprachen 70 Prozent oder mehr ihrer Wörter gemeinsam haben, dann handelt es sich lediglich um Dialekte. In meine Schätzung fließen Dialekte nicht mit ein.
Sie sind der Vertreter einer unter Sprachwissenschaftlern bislang noch recht umstrittenen Theorie: Alle diese Sprachen haben sich aus einer "Ursprache" heraus entwickelt. Wie kommen sie darauf?
Die ursprüngliche Idee ist eigentlich über 100 Jahre alt. Schon der italienische Linguist Alfredo Trombetti forschte auf diesem Gebiet und stellte 1905 die Theorie auf, dass alle Sprachen der Erde aus einer einzelnen hervorgingen. In den frühen 1990er Jahren haben mein Kollege John Bengston und ich diesen Gedanken aufgegriffen und in unserem Buch "Global Etymologies" weiterentwickelt. Wir fanden 27 Wörter, die auf der ganzen Welt verstreut in verschiedenen Sprachfamilien auftauchen. Sie teilen offensichtlich eine gemeinsame Herkunft.
Zum Beispiel?
Zwei der besten Beispiele für Wörter, die man in Sprachfamilien über die ganze Welt verstreut findet, sind die Wörter "TIK" und "PAL". "TIK" bedeutet "Finger" oder "eins". "PAL" bedeutet "zwei". Man findet diese Wörter in Afrika, Eurasien, Australien, in Südamerika. Der einzige Weg, dieses Phänomen zu erklären, ist: Diese Wörter leiten sich aus früheren Wörtern "TIK" oder "PAL" ab, die jeweils schon diese Bedeutung hatten.
Naja, es gäbe noch andere Arten, dieses Phänomen zu erklären. Es ist ja zum Beispiel nicht unüblich, dass sich Lehnwörter aus anderen Sprachen bilden. "Kindergarten" wäre da ja nur eines der vielen Beispiele.
Das ist ein beliebtes Gegenargument. Aber es macht in diesem Zusammenhang überhaupt keinen Sinn! Lehnwörter entstehen, wenn zwei Sprachen in Kontakt kommen. Und so die Ähnlichkeiten unter hunderten Sprachen zu erklären, ist schlicht Unsinn.
Vielleicht sind es ja nur zufällige Ähnlichkeiten?
Auch das ist unvorstellbar. Das würde bedeuten, dass diese vielen Sprachfamilien - unabhängig voneinander! - alle das exakt gleiche Wort mit einer bestimmten Bedeutung versehen haben.
Okay, ein letzter Versuch: Manche Wörter sind ähnlich, weil sie sich an dem Erscheinungsbild dessen orientieren, dass sie ausdrücken: "murmeln" (Deutsch), "to murmur" (Englisch), "murmurer" (Französisch), "murmurar" (Spanisch).
In diese Kategorie fallen verhältnismäßig nur sehr wenige Wörter. Das englische Wort "buzz" [deutsch: brummen oder summen, d.Red.] wäre ein weiteres Beispiel. Aber Wörter wie "Hand", "Himmel", "Blut", "Finger" - dort trifft das nicht zu! Da gibt es keine Konsonanten oder Vokale, die "automatisch" diese Bedeutungen repräsentieren. Deswegen, ich wiederhole: Die einzige vernünftige Erklärung ist, dass diese ähnlichen oder gar gleichen Wörter in so vielen Sprachen daraus hervorgehen, dass sie sich aus einer früheren Ursprache heraus entwickelt haben. Ich nenne sie "Proto-Sapiens" und gehe davon aus, dass sie zum ersten Mal vor rund 50.000 Jahren in Afrika auftaucht.
Mir gehen zwar die Argumente aus, aber diese genaue Datierung hört sich sehr gewagt an.
Um das zu verstehen, muss man den genetischen und historischen Hintergrund kennen. Die neuere Genforschung zeigt ohne Zweifel, dass alle heutigen modernen Menschen von einer kleinen Population in Ost-Afrika abstammen, die vor rund 50.000 Jahren teilweise Afrika verlassen und die ganze Welt bevölkert hat. Diese Menschen waren anatomisch nahezu identisch mit dem heutigen Menschen.
Die "Out of Africa"-Theorie.
Genau. Sie ist sehr gut belegt und deswegen heute nahezu unumstritten. Zum ersten Mal tauchen diese anatomisch modernen Menschen vor rund 200.000 Jahren in Afrika auf. Aber obwohl sie unserer heutigen Anatomie glichen, verhielten sie sich sehr primitiv, wie etwa die Neandertaler - obwohl sie mit ihnen eigentlich kaum Ähnlichkeiten hatten. Und daher kommt das Schlüsseldatum: Vor rund 50.000 Jahren änderte sich das Verhalten plötzlich rapide. Diese anatomisch modernen Menschen verhielten sich plötzlich komplett anders und entwickelten Dinge, die es bei anderen Vorläufern der modernen Menschen, etwa in Eurasien, nicht gab. Ihre Werkzeuge wurden plötzlich komplex; die Kunst kommt zu dieser Zeit das erste Mal auf; die Menschen begannen mit dem Fischfang. Diese Dinge sind vorher nicht belegt. All das passiert sehr schnell - während zuvor die primitiven Werkzeuge über zehntausende Jahre hinweg völlig unverändert blieben! Die Erklärung, die ich dafür habe - und andere auch, hier bin ich nicht der einzige - ist: Dieses moderne menschliche Verhalten tritt auf, weil die moderne Sprache zu dieser Zeit entstand …
… aus dem Nichts?
Nein. Moderne Sprache kommt nicht aus dem Nirgendwo. Die meisten Forscher, so auch ich, nehmen an, dass es Vorstufen gab. Aber weil alle diese Urmenschen, von den Neandertalern bis hin zu Lucy, nicht mehr existieren, gibt es keine Möglichkeit, diese zu rekonstruieren. Das Einzige, was sich meiner Einschätzung nach sagen lässt, ist, dass die erste vollständig moderne menschliche Sprache - "Proto Sapiens" -, woraus immer sie sich entwickelt hat, vor 50.000 Jahren auftaucht.
Lassen Sie uns doch den Schritt zurück wagen. Spontan würde ich sagen: "Mama" und "Papa" gehören sicherlich zu den ersten Worten der Menschheit. Das weiß doch im wahrsten Sinne des Wortes jedes Baby.

Merritt Ruhlen ist Dozent für Anthropologie und Humanbiologie in Stanford und Direktor des Santa Fe-Programms "Evolution der menschlichen Sprache".
Diese Worte waren schon immer problematisch. Man hat gesehen, dass "Mama" und "Papa" auf der gesamten Welt auftauchen. Wie ist das zu erklären, wenn nicht durch eine gemeinsame Herkunft? In den 1950er Jahren hat der russische Linguist Roman Jakobson eine andere Erklärung aufgezeigt: Er behauptete, es habe mit der Sprachentwicklung bei Kindern zu tun, weil "Mama" und "Papa" ganz elementare Laute wiedergeben. "M" und "P" gehören zu den ersten Konsonanten, die ein Baby von sich gibt, "A" zu den ersten Vokalen. Jacobsen behauptete also: Kinder erfinden diese Worte auf der ganzen Welt immer wieder neu. Seine Erklärung war also die Sprachentwicklung, nicht der gemeinsame Ursprung.
Das hört sich so an, als käme gleich Widerspruch.
Da liegen Sie richtig. Ich habe mich mit dem Thema befasst und mich gefragt, ob diese These wirklich stimmt. Meine Argumentation: Neben "Mama" und "Papa" gibt es auch das sehr weit verbreitete Wort "Kaka", das so viel wie "Älterer Bruder" oder "Onkel" bedeutet. Das Problem bei diesem Wort: "K" ist kein Laut, den Kinder früh in ihrer Entwicklung lernen, im Gegenteil! Wenn es also später "erfunden" worden wäre, wie könnte man erklären, dass dieses Wort weit verbreitet ist und dort überall "Onkel" oder "Älterer Bruder" bedeutet?
Lassen Sie mich raten: durch eine gemeinsame Herkunft.
Sie haben es erfasst. Der französische Linguist Pierre Bancel hat sich anlässlich meiner Argumentation ebenfalls mit dieser Frage befasst. Er hat die Argumente beider Seiten untersucht und gezeigt: "Mama" und "Papa" werden nicht jedes Mal von Kindern wiedererfunden, wenn sie eine Sprache lernen. Sie gehen zurück auf die frühesten Formen der Sprache, vielleicht sind es sogar die ersten Worte überhaupt. Aber sie wurden vererbt - genau wie alle anderen Wörter.
Konsensfähig ist diese Ansicht aber nicht.
Viele Menschen haben die Idee der "Wiederfindung" akzeptiert, weil es etwas erklärt, für das sie keine andere Erklärung haben. Die Leute akzeptieren nicht viele Theorien über Dinge, die so lange zurückliegen. Sie sperren sich gegen solche Ideen und sagen schlicht: Wir können darüber keine Aussagen machen. Und wenn man das nicht kann, warum sollte man es dann versuchen?
Quelle: ntv.de, Mit Merrit Ruhlen sprach Fabian Maysenhölder