Sichtbar gemachte Lügen Forscher lesen Gedanken
21.04.2008, 09:01 Uhr
Was passiert im Gehirn beim Denken? Diese Frage fasziniert die Neurowissenschaft. Liegt ein Mensch im Kernspintomografen - einer Art Röhre -, können Hirnforscher schon seit längerem dem Gehirn mit einer speziellen Technik beim Arbeiten zusehen: Sie beobachten, in welchen Bereichen Nervenzellen feuern und Aktivität zeigen. Inzwischen kann man schon einige Gedanken lesen ohne Scharlatanerie, sondern mit naturwissenschaftlichen Methoden. "Wenn man spezielle Gehirnmuster findet einen Abdruck des Gedankens im Gehirn weiß man, was eine Person denkt", sagte Prof. John-Dylan Haynes vom Berliner Bernstein Center für "Computational Neurosciene" bei einer hochkarätig besetzten Tagung im evangelischen Bildungszentrum Hospitalhof am Wochenende in Stuttgart.
Unter der Leitung des Bielefelder Hirnforschers Professor Hans J. Markowitsch und Pfarrer Helmut A. Müller diskutierten Wissenschaftler aus den unterschiedlichsten Disziplinen miteinander. Das Thema: "Produzieren die Neurowissenschaften den gläsernen Menschen?" Eine Frage, die zunehmend Moralphilosophen, Strafrechtler, Forensiker und Theologen herausfordert. So zeigte Haynes in einem Experiment, wie und wo im Gehirn bestimmte Entscheidungen gefällt werden. Versuchspersonen sollten sich entscheiden, ob sie addieren oder subtrahieren und dies für sich behalten. "Diese Entscheidung konnten wir mit 70-prozentiger Genauigkeit entschlüsseln", sagte Haynes. Zuvor hatte man den Computer mit den entsprechenden "Gehirnabdrücken" eben mit dem speziellen Muster des Neuronenflackerns für das Addieren und Subtrahieren - gefüttert und mit den Gedankenmustern der Probanden verglichen.
Eine zusätzliche Entdeckung: "Bis zu zehn Sekunden, bevor eine Person die Entscheidung fällt was sie per Tastendruck angezeigt hatte, flackerte das entsprechende Gedanken-Muster auf. Noch bevor die Person also weiß, wie sie sich entscheidet, zeigt die Maschine den Beschluss schon an. "Hier stellt sich die Frage, ob der freie Wille des Menschen haltbar ist", sagte Haynes. Dies ist zurzeit eine der umstrittensten Kontroverse in der Wissenschaft. Hat der Mensch einen freien Willen? Oder ist er durch neuronale Aktivitäten im Gehirn festgelegt? Kann er also nicht gegen seine Natur handeln?
Hirnforscher Markowitsch schilderte hierzu den Fall eines treu sorgenden Familienvaters, der plötzlich pädophil geworden war und sich an seinen Kindern vergriffen hatte. Nachdem man einen Tumor im Stirnhirn gefunden hatte, das die Emotionen steuerte - ihn entfernte - verschwanden diese Neigungen wieder. Ist der Straftäter also schuldfähig oder nicht? "Wahrscheinlich werden Gehirnscans irgendwann auch vor Gericht zugelassen", prognostizierte Markowitsch, der auch schon als Gutachter vor Gericht tätig war. In einem eigenen Experiment hat er sogar den "Abdruck der Lüge" im Gehirn nachgewiesen. Als Studenten aufgefordert wurden, eine wahre Geschichte zu erzählen, feuerten die Nervenzellen im Stirnhirn. Erzählten sie Lügen, gab es ein Neuronengewitter im hinteren Schädelbereich.
Auch Unternehmen studierten mittlerweile, wie das Gehirn von Bewerbern aussieht. "Wir brauchen eine gesellschaftliche Diskussion, welche Technik erwünscht ist und welche nicht", forderte Markowitsch. Eine kritische Position übernahm Technikphilosoph Prof. Thomas Zoglauer von der TU Cottbus. Die neuronale Tätigkeit sage nichts über die Gründe von Menschen aus. Auch Prof. Hans-Ludwig Kröber, Leiter des Instituts für Forensische Psychiatrie, warnte davor, alle Entscheidungen auf eine rein physiologische Ebene zu reduzieren. "Der Mensch ist mehr als seine neuronalen Aktivitäten im Gehirn", so der Tübinger Theologe Dirk Evers. Der Mensch sei im Kern autonom eine Freiheit, die ihm Gott geschenkt habe.
Susanne Rytina, dpa
Quelle: ntv.de