Vom Aussterben bedroht Meeresschildkröten bei Bali
09.10.2008, 12:27 UhrSie rennen nicht von ungefähr, als ob es um ihr Leben geht. Tapsig erst, und manche wühlen sich zunächst ungelenk im Sand. Doch dann haben die Schildkrötenbabys den Dreh schnell raus. Sie nehmen Kurs aufs Meer - immer geradeaus. Ein paar Meter, ehe sie ihr Ziel erreichen. Die erste kleine Welle wirft einige zurück an den Strand. Doch dann stürzen sich die Mini-Schildkröten mit einem geschickten Tauchmanöver ins Abenteuer: auf Entdeckungstour in ihre neue, große, gefährliche Welt.
Die Reise der kaum handflächengroßen oliven Bastardschildkröten beginnt passend auf der Schildkröteninsel Serangan bei Bali in Indonesien. Dieses Fleckchen Erde, durch einen aufgeschütteten Damm heute mit der Hauptinsel verbunden, war bis vor wenigen Jahren eine der beiden weltweit wichtigsten Drehscheiben für den illegalen Schildkrötenhandel. Panzer gab es hier für Schmuckhersteller, Pfoten für Suppen, Bauchfleisch für die Medizin und ganze Tiere für rituelle Schlachtungen. Die Frauen der Schildkrötenhändler brieten auf kleinen Grills am Straßenrand die berühmten Satay Penyu - Schildkröte am Spieß. Dass dieses Treiben eine der ältesten Tierarten, die auf der Erde noch zu Hause sind, bis an den Rand der Ausrottung gebracht hat, bedachten sie nicht.
Lederrückenschildkröte bedroht
Für zahlreiche Schildkrötenarten hat der Kampf ums Überleben längst begonnen. "Die Lederrückenschildkröten sind kurz vor dem Aussterben", sagt die Meeresbiologin der Umweltstiftung WWF, Karoline Schacht. Sie sind mit bis zu zwei Meter langem Panzer und 500 Kilogramm die Schwergewichte unter den Meeresschildkröten. Sie können bis zu 120 Jahre alt werden. Von den sieben Arten sind mindestens sechs stark gefährdet oder sogar akut vom Aussterben bedroht. Der Bestand der Lederrückenschildkröten schrumpfte in 20 Jahren um 90 Prozent. "Schildkröten sind die ältesten noch lebenden Reptilien der Welt", sagt Schacht. "Ihr Bauplan hat sich in den vergangenen 225 Millionen Jahren nicht wesentlich geändert."
"Botschafter der Ozeane", nennt Lida Pet-Soede die Tiere, weil sie in dem gesamten Gebiet der tropischen und subtropischen Meere zu Hause sind. Die niederländische Tropenfischbiologin lebt seit mehr als zehn Jahren auf Bali. Sie hat Daten von Schildkröten mit Peilsendern auf dem Panzer ausgewertet. Die Tiere legen zehntausende Kilometer zurück zwischen Kalifornien und China, zwischen Indonesien und Afrika, um ihre Eier an dem Strand abzulegen, wo sie selbst geschlüpft sind. Das wird aber immer schwieriger. "Einst einsame Strände werden plötzlich zur Spielwiese für Touristen, und für die Schildkröten bleibt kein Platz", sagt Pet-Soede. Bali war immer ein Nistplatz für Meeresschildkröten, aber an den Stränden von Nusa Dua und Kuta reihen sich heute die Strandrestaurants aneinander und am Strand steht Liegestuhl an Liegestuhl.
Nester vor dem Tourismus schützen
Seit Jahren schützen Freiwillige in langen Nächten Schildkrötennester. Eine davon ist die indonesische Ökologin Creusa Hitipeuw. Jahrelang hat sie in Borneo und Papua an verschiedenen Stränden gelebt, die Schildkröten beobachtet, ihr Verhalten studiert, ihre Nester beschützt und die Brut auf dem gefährlichen Weg ins Meer bewacht. Heute arbeitet sie für das Schildkrötenzentrum auf Serangan. "Wir wollen die Menschen aufklären", sagt sie. "Schildkröten verbringen 99 Prozent ihrer Zeit im Meer, die Weibchen kommen nur zum Eierlegen an den Strand." Die Babys machen sich nach dem Schlüpfen direkt auf ins Meer - unter den gierigen Augen von Seevögeln, die in den Kleinen ein gefundenes Fressen sehen.
In dem Zentrum gibt es große Becken, in denen sich zwischen ein und zwei Monate alte Schildkröten tummeln. Die Kleinen sind putzmunter. Einige sausen um die Wette durch das Becken, andere klettern den langsameren auf den Rücken, um beim Fressen den besten Platz zu ergattern. Im Schutz des Zentrums schlüpfen Schildkröten hier aus Nestern, die Mitarbeiter in Sicherheit gebracht haben. "Uns rufen Hotelbesitzer an und auch Touristen, die Nester entdecken", sagt sie. Das Zentrum nutzt die kleinen Kröten ein paar Wochen als Anschauungsmaterial für Schulklassen und Touristen, die hier alles über die bedrohten Arten lernen können.
Schildkröte als Glücksbringer
Auch "Lepi" lebt hier. Die olivgrüne Bastardschildkröte ist mit vier Jahren noch ein Kind, aber schon ein schwerer Brocken. Besucher sehen an ihr, was aus den Minischildkröten, die sie hier adoptieren und im Meer aussetzen können, einmal wird. An diesem Spätnachmittag ist Mitarbeiter Wayan Sukara mit einer blauen Wanne voller kleiner Schildkröten am nahen Strand. "Na komm schon", flüstert er einer kleinen Bastardschildkröte aufmunternd zu. Das Tier tritt mehrfach den Rückzug zur vertrauten Wanne an. "In die andere Richtung, Du Dummerchen!" sagt er.
"Die Leute adoptieren die Schildkröten heute als Glücksbringer, zum Beispiel, wenn eine Hochzeit ansteht, oder ein Kind geboren worden ist", erzählt er. 50.000 Rupien kostet das pro Tier - keine vier Euro - und das ist eine dringend notwendige Einnahmequelle für das Zentrum. Mit ihren geheimen Wünschen versehen entlassen Besucher die Schildkröten dann ins Meer. Das war nicht immer so. Auf Bali wurden Ende der 90er Jahre noch schätzungsweise 30.000 Meeresschildkröten aus ganz Indonesien und angrenzenden Ländern angelandet und getötet.
Rolle im hinduistischen Glauben
Alle Versuche von Tierschützern, den Handel zu unterbinden, wurden mit einem lange schlagenden Argument vom Tisch gewischt: Bali ist eine hinduistische Hochburg im ansonsten muslimischen Indonesien und Schildkröten spielen in der hinduistischen Mythologie eine große Rolle. Auf ihnen ruht die Last der Welt. Jahrhunderte lang wurden sie bei Ritualen geopfert und dafür oft bei lebendigem Leibe aufgeschlitzt. "Wenn man einen Tempel rein halten wollte, musste man zum Beispiel einen Schildkrötenpanzer im Fundament vergraben", sagt Sukara. Das Fleisch wurde anschließend als Festschmaus verzehrt.
"Die Balinesen waren die schlimmsten Schildkrötenwilderer in Indonesien", sagt Sukara. Er muss es wissen. Seine Familie war mitten drin. Der WWF schätzt, dass allein der Handel die Schildkrötenbestände um 40 bis 80 Prozent dezimiert hat. Die Tierschützer appellierten an das religiöse Verantwortungsgefühl. "Weil Hindus an die Wiedergeburt glauben, haben wir die Frage gestellt: Was macht die nächste Generation, wenn alle Schildkröten ausgestorben sind?" sagt Pet-Soede.
"Die Religionsführer haben auf unser Drängen noch einmal alte Schriften studiert, und sind dann zu einem bahnbrechenden Ergebnis gekommen", sagt der balinesische Tierarzt und Schildkrötenexperte Windia Adnyana. Vor drei Jahren kam der ersehnte Durchbruch: der höchste religiöse Hindurat auf Bali erließ ein Bhisama, ein religiöses Dekret, wonach bedrohte Tierarten nur noch bei Ritualen verwendet werden dürfen, wenn sie nicht getötet werden. Alternativ könnten Bilder oder Kuchen in Form des Tieres verwendet werden.
Schildkrötenschlachten ist intolerabel
Seitdem ist alles anders. "Den Leuten ist klar geworden, dass Schildkrötenschlachten nicht mehr toleriert wird", sagt Sukara. Ein paar illegale Händler versuchten ihr Glück vielleicht noch, meint er. Es würden aber höchstens noch 500 Tiere im Jahr auf Bali verhökert.
Wieder eine Hürde im Kampf um die Rettung der Meeresschildkröten genommen - Tierschützer feierten den Erfolg. Doch dann wurde schnell klar: "Wir haben festgestellt, dass unsere Anstrengungen nicht reichten. Die Bestände sind nicht gewachsen", sagt Pet-Soede. Denn das Schildkrötenleben im Meer gleicht immer mehr einem Spießrutenlauf. "Man stelle sich die kilometerlangen Netze und Angelleinen vor, die mit abertausenden Ködern dort hängen - für die Schildkröten wird es immer schwieriger, unbeschadet da durch zu kommen", sagt Pet-Soede.
Unter anderem deshalb gibt es jetzt das Projekt "Korallendreieck" - eine Meeresregion zwischen den Philippinen, Malaysia, Indonesien, Papua-Neuguinea, den Salomonen-Inseln und Osttimor, die wegen ihrer Artenvielfalt mit beispiellosen Korallenriffen als "Amazon des Meeres" gilt. 75 Prozent aller bekannten Korallenarten kommen hier vor, sowie sechs der sieben Meeresschildkrötenarten, 3000 Fischarten und Delfine und Wale. Jetzt wollen die Anrainer beim Tier- und Meeresschutz an einem Strang ziehen. Pet-Soede leitet die dazugehörige WWF-Kampagne. Die Länder wollen die Region und ihre Arten gemeinsam vor Überfischung, zerstörerischen Angelmethoden und Wilderern schützen. Der Schildkrötenschutz soll koordiniert werden. Mit einer gesunden, geschützten Meeresregion hoffen sie eines Tages, verantwortungsbewusste Touristen anzuziehen.
"Die Schildkröten leben seit dem Zeitalter der Dinosaurier - der Kampf um ihr Überleben ist ein Symbol dafür, ob wir uns um die Welt, in der wir leben, kümmern oder nicht", sagt Pet Soede.
Christiane Oelrich, dpa
Quelle: ntv.de