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Exotisches Ökosystem in der Tiefe Nur eine Bakterienart

Gastliche Orte sehen wahrlich anders aus als dieser exotische Platz in 2,8 Kilometern Tiefe. Ringsum nur Gestein, totale Dunkelheit, 60 Grad Hitze und Radioaktivität. Zu "essen" gibt es Schwefelverbindungen, und auch was sonst noch so zum Leben nötig ist, muss irgendwie aus dem Gestein herausgelöst werden. Kaum vorstellbar, dass unter solchen Bedingungen Leben möglich sein soll – aber die Tiefe ist bewohnt. Beim Ausbau einer Goldmine in Südafrika ist das bislang kleinste Ökosystem entdeckt worden. Darin lebt nur eine einzige Bakterienart – allein von den chemischen Verbindungen in seiner
Umgebung. Der Keim heißt Desulforudis audaxviator. Das Bakterium und sein Genom werden von einer Gruppe um Dylan Chivian vom Lawrence Berkeley National Laboratory (US-Staat Kalifornien) im Journal "Science" vorgestellt (Bd. 322, S. 275).

Der Name lässt viele Rückschlüsse auf die Lebensumstände in der Tiefe zu. Desulforudis weist auf die Stäbchenform des Keims und seine Fähigkeit hin, Energie aus Schwefelverbindungen zu ziehen. Der zweite Teil, audaxviator, erinnert an den langen Weg in die Tiefe und geht auf den Roman "Die Reise zum Mittelpunkt der Erde" von Jules Verne zurück.
Darin findet der Hamburger Professor Otto Lidenbrock eine versteckte Botschaft in einer isländischen Sage ("In Sneffels Joculis craterem quem delibat Umbra Scartaris Julii intra calendas descende, Audax viator, et terrestre centrum attinges.") Daraus geht hervor, dass ein mutiger Reisender (der "Audax viator"), der in den Krater des isländischen Vulkans Snfellsjökull herabsteigt, zum Mittelpunkt der Erde gelangen kann. Lidenbrock beginnt seine gefahrvolle, fantastische Reise und kehrt annähernd unversehrt aus der Tiefe zurück.

Leben ohne Licht

Das Leben unten in der Goldmine gründet sich auf vollkommen andere Energie- und Nahrungsquellen als an der Oberfläche. An der Oberfläche liefert die Sonne Energie, mit der Pflanzen aus Wasser und Kohlendioxid Zucker und andere Verbindungen zusammensetzen, die Tiere und letztlich auch den Menschen ernähren. Wir und alle anderen Säugetiere leben also in einer Welt, in der die Energiequelle Licht organische Kohlenstoffverbindungen schafft, auf die wir angewiesen sind. Biologen nennen diese Lebensweise "photo-organo-heterotroph". Dies gilt auch für Lidenbrock und seine Gefährten, die daher viel Reiseproviant aus der "Lichtsphäre" mit in die Tiefe schleppen mussten.

Ganz anders ist es in den wasserhaltigen Rissen in der Tiefe der Goldmine: Es gibt kein Licht und keine Pflanzen, die Desulforudis Kohlenstoffverbindungen liefern könnten. Damit ähneln die Bedingungen jenen auf der jungen Erde vor mehreren Milliarden Jahren. Desulforudis audaxviator muss sich seine Versorgung daher ganz anders organisieren. Seine Energie gewinnt der Keim aus Schwefelverbindungen – als Abfallprodukt entsteht das giftige und sehr unangenehm riechende Gas Schwefelwasserstoff. Weil es ohne Pflanzen in der Tiefe weder Zucker noch Stärke als Nahrung gibt, muss der zum Überleben nötige Zucker selbst konstruiert werden.

Ausgangsmaterial dafür ist Kalziumkarbonat (CaCO3), aus dem der Kohlenstoff herausgelöst wird, der in der Folge zu Zuckern zusammengefügt wird. Alles in allem handelt es sich um eine "chemo-litho-autotrophe" Lebensweise (etwa: "sich von Stein selbst ernährend"). So etwas gab es vermutlich zu Beginn des Lebens auf der Erde, und solche Bakterien könnten
womöglich auch auf anderen, sonst lebensfeindlichen Planeten überleben. Die Energie gewinnt der Keim aus Wasserstoff und Sulfat, die wiederum durch die Energie des radioaktiven Zerfalls von Uran entstehen, wodurch Wasser gespalten wird. Stickstoff und Phosphor, ebenfalls unerlässliche Bausteine des Lebens, werden verschiedenen Mineralien in der Umgebung
abgetrotzt.

Auf sich gestellt

Dies alles erledigt das Bakterium ganz alleine – es gibt nichts und niemandem, der dabei helfen könnte. Der Keim kann sich auch alle Aminosäuren selbst herstellen. "Alles, was für das Leben nötig ist, findet sich in diesem einen Genom", sagte Chivian in einem Gespräch mit "Science". Der Vergleich mit anderen, bereits sequenzierten Bakterien zeigte, dass sich audaxviator viele der dafür nötigen Bestandteile von anderen Keimen geholt hat. Sauerstoff verträgt das Bakterium nicht.

Das Ökosystem mit nur einem Bewohner findet sich in Sektion 104 der südafrikanischen Goldmine Mponeng in der Nähe von Johannesburg. Die Forscher sammelten 5600 Liter Wasser, filterten es, suchten nach Spuren von Leben – und wurden 2006 fündig. Die DNA in den Proben gehörte zu 99,9 Prozent zu einer Art, der winzige Rest erwies sich als Kontamination
aus der Mine und dem Labor. Nach dem Sequenzieren fanden sich in den rund 2,3 Millionen genetischen Bausteinen 2157 Gene, 210 davon ohne Ähnlichkeit zu bekannten Erbanlagen. Damit hat der "mutige Reisende" alles, was er zum Überleben braucht. Der Keim ist vermutlich über lange Zeit hinweg herabgestiegen und hat dabei zahlreiche Gene von anderen Bakterien übernommen, denen er im Lauf der Zeit begegnet ist. Auch das geht aus der Analyse des Genoms hervor.

Forscher sprechen vom horizontalen Gentransfer, bei dem zwei lebende, auch artfremde Individuen Erbgutstücke miteinander austauschen, ein bei Bakterien verbreiteter Vorgang. In der Folge kann sich Desulforudis – Chivian und seine Kollegen sprechen von "vielseitigen Höhlenforschern" – mit Energie und Nährstoffen versorgen, sich vor Viren schützen, sich frei
bewegen und, falls nötig, zu einer Spore werden. In diesem Stadium ist die Erbsubstanz vorm Austrocknen und vor chemischen Schäden geschützt. So lassen sich etwa Trockenperioden überstehen. Das exotische Bakterium könnte mit dieser Ausstattung vielleicht auch auf anderen Planeten überleben, wenn es dort ähnliche Umstände fände wie in der Mine. Der Keim lebt vermutlich schon einige Millionen Jahre in der Tiefe, aber nicht von Beginn des Lebens an, sagte Chivian.

In den Gold- und Platinminen Südafrikas wurden in den vergangenen Jahren bereits rund 280 Bakterien und mehr als 40 urtümliche Archaebakterien identifiziert, die sich aber nicht kultivieren und vermehren lassen. Das bakterienhaltige Wasser wird daher vor allem genetisch untersucht, das Fachgebiet trägt den Namen Umwelt-Genomik.

Quelle: ntv.de

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