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"Schwer, sich dagegen zu wehren" Pränataldiagnostik wurde Standard

Einst für Frauen mit großer erblicher Belastung erfunden, gehört die Pränataldiagnostik mittlerweile zum Standard in der Schwangerenvorsorge. Dabei gelten die meisten der angebotenen Untersuchungen nicht dem Wohl von Mutter und Kind in der Schwangerschaft, sondern der Suche nach Auffälligkeiten beim Kind, die in den meisten Fällen nicht geheilt werden können. Warum Frauen auf das sogenannte Frühscreening verzichten sollten und viel Wissen brauchen, um den Anspruch auf Nichtwissen durchsetzen zu können, erklärt Hildburg Wegener vom Netzwerk gegen Selektion durch Pränataldiagnostik.

n-tv.de: Wenn eine Frau zu Beginn ihrer Schwangerschaft hilfesuchend zu Ihnen kommen würde, was würden Sie ihr in Bezug auf Schwangerschaftsvorsorge raten?

Laut Mutterschaftsrichtlinien soll die erste Ultraschalluntersuchung in der 9. bis 12. Woche durchgeführt werden - viele halten es aber erst in der 30. Schwangerschaftswoche für sinnvoll.

Laut Mutterschaftsrichtlinien soll die erste Ultraschalluntersuchung in der 9. bis 12. Woche durchgeführt werden - viele halten es aber erst in der 30. Schwangerschaftswoche für sinnvoll.

(Foto: picture-alliance/ dpa)

Hildburg Wegener: Grundsätzlich gibt es zwei Möglichkeiten der Schwangerschaftsvorsorge. Eine bei einer Hebamme, in der es wirklich um die Gesundheit von Mutter und Kind geht. Hebammen sind in Deutschland per Gesetz befugt, die Schwangerschaftsvorsorge vom Beginn bis zur Geburt durchzuführen. Hebammen kümmern sich in erster Linie um die Mutter und benutzen keine technischen Apparate. Hebammen wissen aber genug, um festzustellen, wenn es ein Problem in der Schwangerschaft geben sollte. Das können die Frauen durch Tasten, Horchen, Fühlen, Wahrnehmen der Mutter und ihren Erfahrungsschatz erkennen.

Wie sieht die zweite Möglichkeit aus?

Die zweite Möglichkeit ist, die Schwangerschaftsvorsorge nach Mutterschaftsrichtlinien bei einer Gynäkologin oder einem Gynäkologen durchführen zu lassen. Diese Mutterschaftsrichtlinien haben Krankenkassen und Ärzteschaft gemeinsam erarbeitet. Sie empfehlen, dass die Schwangere mindestens einmal im Monat, später alle vierzehn Tage, zur Untersuchung geht. Diese Untersuchungen beziehen sich zum Teil auf die Gesundheit der Frau, aber in hohem Maße auf die Eigenschaften des ungeborenen Kindes. Bei dieser Variante kommt viel Technik zum Einsatz und die Schwangere hat meistens erst kurz vor der Geburt den Kontakt zu einer Hebamme.

Die meisten Schwangeren in Deutschland entscheiden sich mehr oder weniger bewusst für die zweite Variante?

Heutzutage gehen viele Frauen sehr früh zu ihrer Frauenärztin/ihrem Frauenarzt, um festzustellen, ob sie tatsächlich schwanger sind. Nach Mutterschaftsrichtlinien wird die erste Ultraschalluntersuchung in der 9. bis 12. Woche durchgeführt. Gehen Frauen vorher zum Arzt, wird auch dann oft schon eine Ultraschalluntersuchung vorgenommen, bei der die Schwangerschaft eindeutig festgestellt werden kann. Bei dem ersten der regulären Ultraschall geht es im Wesentlichen darum, den Geburtstermin und den Entwicklungsstand des Ungeborenen festzustellen. Bereits bei dieser Untersuchung kann es dazu kommen, dass Ärztinnen und Ärzte die Stirn runzeln, weil sie etwas Ungewöhnliches entdecken.

Dann lieber keine Ultraschalluntersuchungen?

Wahrscheinlichkeitswerte sind für Schwangere weder beruhigend noch helfend.

Wahrscheinlichkeitswerte sind für Schwangere weder beruhigend noch helfend.

(Foto: picture alliance / dpa)

Das ist so nicht richtig. Es geht vielmehr darum, dass sich in dieser Phase der Schwangerschaft viele Frauen noch gar nicht für oder gegen ein Kind entschieden haben. Das Bild des Ultraschalls, auf dem sogar schon das pochende Herz des werdenden Kindes beobachtet werden kann, hat für viele Frauen großen Einfluss auf diese Entscheidung und ihre Einstellung zur Schwangerschaft. Zudem gibt es eine Diskrepanz zwischen der Freude, die Frauen beim ersten Bild ihres Kindes entwickeln, und der körperlichen Wahrnehmung. Die Frauen spüren zu diesem Zeitpunkt weder Kindsbewegungen noch auf irgendeine andere Weise den kleinen Körper des Ungeborenen in ihrem Bauch, sehen aber auf einem Bildschirm, dass sich das Ungeborene in ihrem Bauch bewegt. Zudem kommt in dieser frühen Phase der Schwangerschaft, in der die Frau damit beschäftigt ist, zu begreifen, dass sie Mutter wird, die Konfrontation mit dem Angebot weiterer Pränataluntersuchungen. Sie muss nun entscheiden, was sie über dieses Kind wissen will und was sie dann mit diesen Informationen anfängt.

Was meinen Sie damit genau?

In dieser Phase der Schwangerschaft, also zwischen der 11. und 14. Woche, wird die Gynäkologin bzw. der Gynäkologe die schwangere Frauen fragen, ob sie Interesse an einer Untersuchung hat, die Hinweise auf eine genetische Veränderung des Kindes geben kann. Die Ärzte bieten das sogenannte Früh- oder Ersttrimesterscreening an. Es besteht aus einer speziellen Ultraschalluntersuchung zur Messung der Nackentansparenz und einer Untersuchung von Blutwerten der schwangeren Frau. Dieser Test ist keine vorgeburtliche Diagnose, sondern eine Wahrscheinlichkeitsberechnung. Er wird nicht von den Krankenkassen bezahlt, sondern muss von den Frauen selbst finanziert werden. Die Frauen bekommen als Ergebnis eine Risikozahl, die Aufschluss darüber geben soll, wie wahrscheinlich es ist, dass das Kind mit einer Chromosomenabweichung oder einem Herzfehler zur Welt kommt.

Wie genau sieht so eine Risikozahl aus?

Eine Risikozahl kann beispielsweise 1:500 sein. Das bedeutet, dass von 500 Frauen gleichen Alters, die zu diesem Zeitpunkt der Schwangerschaft diese Blutwerte hatten und bei denen das Ungeborene eine Nackenfalte diese Stärke aufwies, eine Frau ein Kind mit beispielsweise einem Down-Syndrom bekommen hat. Ungefähr ab einer Wahrscheinlichkeit von 1:300 wird den Frauen empfohlen, weitere Untersuchungen, in der Regel eine Fruchtwasseruntersuchung, vornehmen zu lassen. Das Problematische daran ist, dass statistische Verfahren eine große Unsicherheit der Ergebnisse aufweisen und die Wahrscheinlichkeitsrechnung nichts über das konkrete Ungeborene aussagt. Das Frühscreening hat eine sogenannte "Falsch-positiv-Rate" von mehr als 5 Prozent. Das heißt in der Realität, mindestens fünf von 100 Frauen bekommen beunruhigende Werte und lassen dann eine Fruchtwasseruntersuchung machen, um dann festzustellen, dass ihr Kind vermutlich nicht betroffen ist.

Sie raten also davon ab?

Ja, und zwar aus mehreren Gründen. Einerseits weil wir denken, dass es für schwangere Frauen weder beruhigend noch helfend ist, sich mit errechneten Wahrscheinlichkeitswerten auseinanderzusetzen, und andererseits weil eine Fruchtwasseruntersuchung ein invasiver Eingriff ist, der gesundheitliche Gefahren für die Mutter und das Ungeborene birgt. Zudem habe ich Bedenken, dass sich diese niedrigschwellige Untersuchung auf alle schwangeren Frauen in Deutschland ausweiten könnte, denn dann haben wir in Deutschland ein staatlich sanktioniertes Programm, um Behinderungen auszuschließen. Das ist eine Form von Eugenik und die sollte es gerade in Deutschland nicht geben.

Sie sind also gegen die Pränataldiagnostik?

Hebammen verzichten auf technikgestützte Untersuchungen.

Hebammen verzichten auf technikgestützte Untersuchungen.

(Foto: picture-alliance/ dpa)

Wir sind gegen ein System, in dem Frauen das Gefühl gegeben wird, die Verantwortung für das Gebären eines gesunden Kindes zu haben. Wir sind auch dagegen, dass kranke Kinder immer mit einer schweren Belastung gleichgesetzt werden, und finden es schlimm, dass Frauen mit einem behinderten Kind sich dem Vorwurf ausgesetzt sehen, dass sie durch Pränataldiagnostik die Geburt hätten verhindern können. Es ist noch einmal daran zu erinnern, dass die Pränataldiagnostik am Anfang für einige wenige Frauen erfunden wurde, die eine große erbliche Belastung aufwiesen. Erst im Laufe der Zeit ist sie zu einer Standarduntersuchung von Schwangeren geworden und heute erscheint sie fast wie eine Pflicht, gegen die Frauen sich nur schwer zu Wehr setzen können.

Zu welcher Art von Schwangerschaftsvorsorge raten Sie?

Das wichtigste ist, dass die Frau sich wohlfühlt. Dazu kommt, dass sie selbstbewusst, informiert und mutig ist und weiß, wohin sie gehen kann, wenn Probleme auftreten. Medizinisch gehören Hebammen dazu, die in Deutschland gut ausgebildet sind. Es gibt zum Beispiel sozialwissenschaftliche Untersuchungen, dass Hausgeburten keine höhere Komplikationsrate haben als Klinikgeburten. Ich kenne viele Frauen, die sich dafür entschieden haben, meistens allerdings erst beim zweiten Kind, wenn sie gute Erfahrungen mit ihrer Hebammen gemacht haben. Viele davon verlassen sich während ihrer Schwangerschaft auf ihr Bauchgefühl, auf ihre Hebamme und ersparen sich die gesamten technikgestützten Untersuchungen. Diese Frauen benötigen aber sehr viel Wissen und Klarheit, um ihren Anspruch auf Nichtwissen in ihrer Familie und in der Gesellschaft durchzusetzen.

Das hört sich sehr radikal an …

Ich würde es als die fundamentalistische Version bezeichnen. Darüber hinaus gibt es auch eine weniger radikale Position. Viele halten einen Ultraschall in der 30. Schwangerschaftswoche für sinnvoll. In dieser Phase steht eine Abtreibung nicht mehr zur Debatte. Diese Untersuchung kann dazu genutzt werden, um optimal auf eine Geburt vorbereitet zu sein und eventuell die richtige Behandlung des Kindes oder die richtige Klinik vorzubereiten. Der erste Ultraschall kann sinnvoll sein, um eine Eileiterschwangerschaft auszuschließen. Dagegen ist der zweite Ultraschall in der 20. bis 22 Woche, der auch  als Fehlbildungsultraschall bezeichnet wird, vor allem selektiv angelegt und wird in vielen Ländern Europas gar nicht routinemäßig angeboten. Ärzte können alle drei Ultraschalluntersuchungen als Paket bei den Krankenkassen abrechnen. Sollte sich eine Frau jedoch gegen einen oder alle Ultraschalluntersuchungen entscheiden, dann bedeutet das für die Ärzte einen Mehraufwand an Zeit, denn dann müssen die Kosten für die geleisteten Vorsorgemaßnahmen einzeln aufgeschlüsselt und bei der Krankenkasse eingereicht werden. Keine der Vorsorgemaßnahmen aus den Mutterschutzrichtlinien sind verpflichtend für eine schwangere Frau.

Welche Veränderungen hat die Pränataldiagnostik in die Gesellschaft getragen?

Hildburg Wegener vom Netzwerk gegen Selektion durch Pränataldiagnostik.

Hildburg Wegener vom Netzwerk gegen Selektion durch Pränataldiagnostik.

Tatsächlich ist es so, dass Frauen sich zunehmend dafür verantwortlich fühlen, ein gesundes Kind zur Welt zu bringen und bei einer Behinderung die Schwangerschaft abzubrechen. Durch die Versprechungen der Pränataldiagnostik entstehen verschwommene Erwartungshaltungen sowohl bei den Frauen als auch in ihrer Umwelt, die gepaart sind mit einer Technikgläubigkeit, dass man vorgeburtlich alles erkennen und bewerten kann. Die Pränataldiagnostik kann gar nicht vorhersagen, wie schwer die vermutete Behinderung des ungeborenen Kindes ist. Einige Menschen mit Down-Syndrom beispielsweise können einen Schulabschluss machen und ohne jede Hilfe von außen leben. Die Veränderungen in der Gesellschaft sind ambivalent. Einerseits wird immer mehr für die Inklusion von behinderten Menschen in Deutschland getan, andererseits tun wir immer mehr dafür, zu verhindern, dass behinderte Kinder zur Welt kommen. So wird in der Gesellschaft langsam vergessen, dass die bei weitem meisten Behinderungen zum Beispiel durch Unfälle entstehen. Die Menschen vergessen auch, dass niemand von uns perfekt ist. Denkt man diese Entwicklung weiter, dann sieht man einen gefährlichen Trend, dass in Zukunft vielleicht nicht nur Behinderte, sondern auch Kranke, Alte oder sogar Arbeitslose und andere unnötige Esser in unserer Gesellschaft zu verhindert werden sollen.

Was sollten Frauen tun, wenn sie wissen, dass ihr Kind eine Behinderung haben wird?

Die Toleranz für Fehlerhaftigkeit und Begrenztheit schwindet in unserer Gesellschaft durch die Pränataldiagnostik, weil Menschen nicht so angenommen und geliebt werden wie sie sind, sondern an einer Norm gemessen werden, die die wenigsten von uns erfüllen. Dennoch muss jede Frau ihre ganz persönliche Entscheidung treffen und sich dafür so viel Zeit lassen, wie sie benötigt. Wichtig ist jedoch zu sagen, dass eine Abtreibung nach einer Fruchtwasseruntersuchung im 6. Monat vorgenommen wird.  Eine solche Spätabtreibung ist aber eine eingeleitete Geburt. Das bedeutet, der Körper der Frau wird zur Geburt ihres Kindes mit Hilfe von verschiedenen Medikamenten gezwungen. Dieser Prozess kann sehr langwierig und traumatisch für die Frauen sein. Besteht die Gefahr, dass das Ungeborene die Abtreibung überlebt und dann als Frühgeburt behandelt werden muss, wird es vorher mittels einer Injektion im Mutterleib getötet. Diesen Eingriff nennt man Fetozid. Viele Frauen machen sich nach einem solchen Erlebnis große Vorwürfe und haben ihr Leben lang Gewissensbisse.

Gibt es eine Alternative dazu, wenn festgestellt wurde, dass das Ungeborene aufgrund seiner Behinderungen nicht lebensfähig wäre?

Ja, je nach Behinderung ist es möglich, die Schwangerschaft bis zum Ende zu bringen und dann das Kind auf natürlichem Wege zu gebären. Das ist für den Körper der Frauen und auch für ihre Psyche viel weniger belastend. wenn sie die Zeit haben, sich von ihrem Kind zu verabschieden, manchmal auch, es zu begraben. Man darf die Vorstellung, dass das behinderte Kind kurz nach der Geburt auf dem Bauch der Mutter stirbt, aber nicht glorifizieren, denn in einigen Fällen kann das Kind trotz einer schweren Behinderungen noch eine Zeitlang, oft jahrelang, leben. Wichtig ist uns, dass die Frauen und Paare mit diesem Problem nicht allein gelassen werden, sondern dass wir selber lernen, jeden Menschen so zu lieben wie er oder sie ist und alles dafür zu tun, dass behinderte Kinder und ihre Eltern alle sozialen Hilfen bekommen, die sie brauchen. Eine Familie mit einem behinderten Kind muss keine behinderte Familie sein.

Mit Hildburg Wegener sprach Jana Zeh.

Quelle: ntv.de

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