Zähneziehen ohne Betäubung Vom Zahnarzt hypnotisiert
12.05.2011, 09:30 Uhr
In Trance kann das Surren des Bohrers wie ein munteres Brummen von Insekten auf der Frühlingswiese klingen.
(Foto: picture alliance / dpa)
Rund 3000 Zahnärzte in Deutschland bieten ihren Patienten an, sie auf Wunsch vor der Behandlung zu hypnotisieren. Wie tief man dem Arzt dafür in die Augen schauen muss, welche Erlebnisse und welche Behandlungen im Trance-Zustand möglich sind und für wen dieser Bewusstseinszustand geeignet ist, erzählt Zahnarzt Dr. med. Horst Freigang, Vizepräsident der Deutschen Gesellschaft für Zahnärztliche Hypnose e.V., im Gespräch mit n-tv.de.
n-tv.de: Wie läuft so eine Hypnose ab? Muss der Patient seinem Zahnarzt dafür besonders tief in die Augen schauen?
Horst Freigang: Nein, nein, nicht unbedingt. Mal vorab: Hypnose setzen wir dann ein, wenn ein Patient diesen Wunsch äußert und extra einen Zahnarzt aufsucht, der mit Hypnose arbeitet, oder wenn er die Tiefenentspannung, die ihm der Zahnarzt vorschlägt, attraktiv findet. Dann fragt der Zahnarzt den Patienten zum Beispiel, wie er sich denn die Hypnose vorstellt. Und vielleicht erwähnt der Patient tatsächlich ein Pendel oder den tiefen Blick in die Augen oder das Fixieren eines Punktes. Dann weiß man, dass es der Wunsch des Patienten ist, über diesen Weg zu gehen.
Wie funktioniert die Hypnose ohne den "tiefen Blick"?

Herrlich entspannend: Über Kopfhörer wird diese Patientin in einer Rostocker Praxis in Hypnose versetzt.
(Foto: picture-alliance/ dpa)
Der Zahnarzt sorgt dafür, dass sich der Patient von der äußeren Realität in die innere Realität zurückzieht, dass er äußere Reize ausblendet und sich aufs Innere konzentriert. Der Patient erzählt dann zum Beispiel vor der Behandlung, wo er lieber wäre als auf dem Zahnarztstuhl. Dabei denkt er vielleicht an ein Urlaubserlebnis oder an sein Hobby. Er wählt ein schönes Ereignis, an das er sich gern erinnern würde und in das er sich gern hineinversetzen würde. Das Ziel ist, dass er – wenn er dann gedanklich in seinem Urlaubsort ist – sogar assoziiert, das bedeutet, er wird auf allen Sinneskanälen das schöne Erlebnis wahrnehmen. Er hört das Rauschen des Meeres, gleichzeitig riecht er das Meer und hat den fischigen, salzigen Geschmack auf der Zunge. Auf der Haut spürt er die Sonne – und das alles dann, während der Zahnarzt an ihm arbeitet.
Und diese Reise wird vom Zahnarzt angeleitet?
Ja, wenn der Patient sagt, er möchte ans Meer, weil er in dem tollen Urlaub so gut drauf war, dann würde man ihn möglicherweise zunächst auf einen Punkt schauen lassen, denn das ist eine gute Möglichkeit, dass sich spontan die Augenlider schließen und der Patient sich von außen nach innen wendet, von der äußeren in die innere Realität. Sind die Augen dann – auch mithilfe der Suggestion durch den Zahnarzt – geschlossen, kann es ein Augenflattern geben, was ein gewisses Anzeichen für Trance ist. Anhand bestimmter äußerer Merkmale kann der Behandler somit ablesen, ob der Patient in einen Trance-Zustand hineingerutscht ist.
"Trance" bedeutet hier konkret was?
Das ist ein Zustand zwischen Wachsein und Schlafen. Wenn man abends beginnt, einzuschlafen, dann wird man ja ein wenig dämmerig, bevor man einschläft. So ähnlich ist es in dieser Trance auch. Der Patient spürt eine gewisse Schwere oder auch Leichtigkeit, er spürt ein Gefühl des Abdriftens.
Was geschieht dann?
Es ist wichtig, dass der Behandler diesen Zeitpunkt am Patienten ablesen kann, dass er also die nonverbalen Signale erkennt. Denn dann kann er mit der Trance-Vertiefung beginnen. Dafür kann er zum Beispiel von zehn auf eins zählen, und dem Patienten suggerieren, dass dieser mit jeder Zahl tiefer in seinen Urlaub reisen oder immer mehr loslassen wird. Oder er sagt seinem Patienten: "Stelle Dir vor, Du bist am Meer, Du schaust nach oben, und plötzlich erblickt Dein Auge einen Vogel, wie er oben am Himmel fliegt. Und wie es der Zufall so will, schau ganz genau hin, verliert der Vogel eine Feder. Und während die Feder immer mehr und mehr nach unten sinkt, wirst Du immer mehr und mehr in den Zustand der totalen Entspannung gehen." Dann begleitet der Patient innerlich mit den Augen die Feder, wie sie zu Boden fällt, und gleitet auf diese Weise immer mehr in die Entspannung hinein.
Woher weiß der Zahnarzt, dass der Patient nun wirklich tief genug in Trance ist?
Da gibt es bestimmte Trance-Zeichen. Zum Beispiel kann dann der Arm des Patienten nach oben gehen und dabei ruckartige Bewegungen machen – so wie viele Menschen beim Einschlafen zucken.
Und dann passiert was?
Dann ist es zum Beispiel möglich, bei Spritzen-Phobikern die Spritze zu setzen, und bei Patienten, die eine bestimmte Medikamenten-Allergie haben und daher kein Betäubungsmittel vertragen, kann ein Zahn auch ohne Anästhesie gezogen werden.
Einen Zahn ziehen, ohne Betäubung, ohne Spritze?!
Ja, das geht. Ich habe schon viele kleinere und größere Operationen ohne Anästhesie unter Hypnose durchgeführt. Alle Operationen, die Sie sich in Narkose vorstellen können, sind schon in Hypnose, also mit mentaler oder geistiger Beeinflussung, durchgeführt worden. Seien es Beinamputationen oder Uterus-Entfernungen.
Geht das tatsächlich schmerzfrei vonstatten?
Schmerzarm zumindest. Der Patient spürt etwas, aber er deutet es um. Er spürt nicht den Schmerz, aber vielleicht ein Drücken oder Rucken. Wenn wir Zähne aushebeln oder fräsen oder Implantate setzen, bekommt der Patient das in gewisser Weise mit. Aber er baut es in seine Fantasiereise ein und interpretiert ein Rucken zum Beispiel als Torschuss gegen die Garagenwand. Oder als bestimmte Herausforderungen, die es gerade an der gedanklichen Kletterwand zu meistern galt. – Wenn morgens der Wecker klingelt, bauen wir das ja zuweilen auch erstmal in einen Traum ein und glauben, unser Besuch hätte an der Tür geklingelt oder ähnliches. So ist das unter Hypnose auch. Man nimmt die Dinge wahr, aber nicht so bewusst.
Und es kann nicht passieren, dass der Patient während eines operativen Eingriffs aus der Hypnose erwacht?
Nein, das geschieht nicht. Der Patient bestimmt, was er zulässt. Er weiß ganz genau, was passiert, wenn er aussteigt. Dass er die OP dann bewusst mitbekäme. Deswegen bleibt er von sich aus in Trance.
Klappt das immer? Ist Hypnose für jeden Patienten geeignet?

Auch ein Plüschtier kann dabei helfen, den Zustand der Trance zu erreichen. Vielleicht reist die Patientin in ihrer Fantasie gerade durch einen Nationalpark in Kenia.
(Foto: picture-alliance / dpa/dpaweb)
Meist sind es Patienten mit großer Angst vor der Zahnarzt-Behandlung, die eine Hypnose wünschen. Oder, wie gerade erwähnt, die, die allergisch auf das Betäubungsmittel reagieren. Auch Patienten mit starkem Würgereiz entscheiden sich oft für die Hypnose, oder die, die eine Langzeitbehandlung einfach stressfrei erleben möchten. Es gibt also viele unterschiedliche Indikationen für eine Hypnosebehandlung. Aber man würde eine Hypnose nie gegen den Wunsch eines Patienten einleiten.
Bei zehn Prozent der Menschen geht es – Studien zufolge – verhältnismäßig schnell, sie in Trance zu versetzen. Bei 80 Prozent geht es mäßig schnell, und bei den übrigen zehn Prozent gibt es Probleme. Da erfolgt die Hypnose dann in Zusammenarbeit mit einem Psychologen.
Was für Probleme können das sein?
Es kann psychische Kontraindikationen geben, oder der Patient hat keine Konzentrationsfähigkeit, oder aber er arbeitet nicht ausreichend mit. Da sind dann bestimmte Techniken nötig in Zusammenarbeit mit einem Psychologen.
Die Zahnärzte, die Hypnose-Behandlungen anbieten, sind entsprechend geschult?
Ja, die haben 96 Ausbildungsstunden hinter sich. Sie lernen die unterschiedlichen Techniken und sie lernen, mit den unterschiedlichsten Signalen des Unbewussten umzugehen. Außerdem absolvieren sie 32 Supervisionsstunden während ihrer Ausbildung.
Was für Besonderheiten können denn unter Hypnose auftreten?
Es kann in bestimmten Fällen zum Beispiel zu einem starken Tränenfluss kommen oder zu einer großen motorischen Unruhe. Da können dann unter der Hypnose traumatische Erinnerungen aus der Kindheit oder Jugend aufgetaucht sein. Es kann sein, dass man unter Hypnose mit Ereignissen in Berührung kommt, von denen man meint, man hätte sie schon längst verarbeitet, und dabei hat man sie nur verdrängt. Der Zahnarzt muss dann natürlich wissen, wie er den Patienten wieder in einen guten Zustand versetzt.
So oder so geschieht es aber nicht, dass der Patient in der Hypnose steckenbleibt?
Nein, natürlich nicht. Zum Schluss kommt die Reorientierung. Da sagt der Zahnarzt zum Beispiel: "Ich zähle jetzt bis fünf, und bei fünf wirst Du Dich strecken und recken und frisch, fröhlich und munter sein." Und das funktioniert.
Welche Methoden gibt es denn noch, um Angstpatienten entspannter auf dem Stuhl zu halten?

Dr. med. Horst Freigang bildet Zahnärzte in der Hypnosebehandlung aus. Er hat eine Praxis in Berlin und ist Vizepräsident der Deutschen Gesellschaft für Zahnärztliche Hypnose e.V.
(Foto: DGZH e.V.)
Die psychische Führung ist unwahrscheinlich wichtig, sich also mit der Angst auseinanderzusetzen. Wenn man den Angstauslöser mit dem Patienten bespricht, ist viel gewonnen. Der Zahnarzt kann zum Beispiel fragen, was der Patient an Spritzen so fürchtet, und dann mit ihm gemeinsam eine Spritze auseinander bauen, ihre Einzelteile begutachten, erklären, was der Piekser an der Spritze genau macht etc. Man kann mit dem Patienten aber auch über das Gefühl der Anspannung sprechen, darüber, wo im Körper er es fühlt. Darüber, wie es allmählich verschwindet, wenn er seine Hand auf den entsprechenden Körperteil legt. Das wäre normale Kommunikation, und die reicht oft aus. - Die Hypnose nun ist für mich und viele andere eine ganz besondere und spezielle Art der Kommunikation.
Gibt es die Hypnose auch für Kassenpatienten?
Ja. Nur müssen sie sie leider meist selbst bezahlen. Es sei denn, es besteht zum Beispiel ein Narkoserisiko. Dann übernehmen auch die Krankenkassen die Hypnose. Es ist eine sogenannte Verlangensleistung. Verlangt wird hier der Zeitaufwand. Denn letztendlich kitzelt der Zahnarzt nur die Ressourcen des Patienten heraus, also etwas, was er von sich aus hat; Fähigkeiten, die das Negative in den Hintergrund treten lassen. Und jeder Mensch ist hypnosefähig. Das ist angeboren.
Mit Horst Freigang sprach Andrea Schorsch.
Quelle: ntv.de