Schmerz, lass nach Wenn Arznei krank macht
19.07.2012, 10:09 Uhr
Irrationales Verhalten: Rund 50 Prozent der Läufer eines City-Marathons nehmen vor dem Start Schmerzmittel ein. Sie wollen vorbeugen.
(Foto: picture-alliance / dpa)
Olympiamannschaften karren sie in großen Mengen zu Wettkämpfen, auch in der Hausapotheke haben sie ihren festen Platz: Aspirin, Paracetamol oder Ibuprofen gelten noch immer als harmlose Schmerzlinderer. Experten bereitet der sorglose Umgang mit den Medikamenten Kopfweh. Sie fordern Rezeptpflicht.
Der Sieg wurde Stephanie Ehret gründlich vergiftet. Zwar lief die Langstreckenläuferin Bestzeit beim 24-Stunden-Rennen. Doch nach dem Wettkampf zahlte sie den Preis: Mehrfach musste die Extremsportlerin sich übergeben, bekam lebensbedrohlich hohes Fieber. Ärzte diagnostizierten Nierenversagen. Mehrere Tage dauerte es, bis sich ihr Körper von der Vergiftung erholt hatte, Teile des Dickdarms mussten entfernt werden. Verantwortlich sei der Missbrauch von Ibuprofen, so die Mediziner. Zwölf Tabletten hatte die Sportlerin vor und während des Wettkampfs eingenommen.
Geschichten wie diese kennt Pharmakologe Kay Brune zuhauf. Besonders im Spitzensport würden Schmerzpillen wie Bonbons eingeworfen. "Bei rezeptfreien Medikamenten verhalten sich die Menschen total irrational", sagt er. Mit dem Allgemeinmediziner Michael Küster hat er beim Bonn Marathon 2010 an die 8000 Läufer zur Einnahme von Schmerzmitteln befragt. Rund 50 Prozent der Teilnehmer hatten Aspirin, Ibuprofen oder Diclofenac eingenommen, die meisten, um vorzubeugen. Die Experten führen zahlreiche Notfälle, die sich im Anschluss ereigneten, auf die Einnahme der Analgetika zurück.
Medizinisch erklärt Brune den Kollaps der Marathonläuferin Ehret so: Organe stehen durch Erschütterung, Flüssigkeits- und Salzverlust ohnehin schon unter Stress. Überlastete Muskeln zerfallen, Muskel-Eiweiß gelangt ins Blut und verstopft die Nierenkanälchen. Ein Vorgang, auf den der Körper mit der Produktion des Hormons Prostaglandin reagiert. Dieses Hormon erhöht den Blutfluss der Niere, damit unser Körper Schadstoffe besser ausscheidet. Ibuprofen hemmt, wenn man so will, den Entgiftungsprozess. Es stoppt nämlich die Produktion der Prostaglandine. Toxisch für den Körper, den viele Sportler bereits mit Amputationen oder gar dem Tod bezahlten.
Mediziner versus Industrie
Brune ist Sachverständiger des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM). Um Menschen im sorglosen Umgang mit Aspirin und Paracetamol wachzurütteln, soll ein Ausschuss Empfehlungen abgeben, wie mit rezeptfreien Schmerzpillen künftig umgegangen wird. Ginge es nach Brune, wären Paracetamol oder Aspirin schon längst verboten oder zumindest rezeptpflichtig. Im Ausschuss sitzen aber auch Vertreter der Industrie, deshalb sieht es derzeit so aus, als komme ein Kompromiss: Schmerzpillen sollen in der Verpackungsgröße auf eine Viertagesdosis beschränkt werden, um Menschen für Risiken zu sensibilisieren. Entscheiden muss das Gesundheitsministerium.
Ob das Menschen wachrüttelt, ist fraglich. Nicht nur im Sport, auch im Alltag greifen wir viel zu schnell zur Hausapotheke. Rund 3,8 Millionen Deutsche nehmen regelmäßig Kopfschmerztabletten - wenn der Schädel brummt, das Knie schmerzt oder man sich müde und schlapp fühlt. Vor einer exzessiven Party gibt es präventiv Aspirin, damit der Morgen danach besser beginnt. Der Schritt zur Sucht oder in den Selbstmord ist leicht: Rund 4184 Paracetamol-Vergiftete registrierten die deutschen Giftzentralen in einem Jahr, zwei Drittel der Fälle sind Schätzungen zufolge Suizidversuchen zuzuschreiben.
Doch auch in geringen Dosen ist Paracetamol lebertoxisch. "Schon ab sechs Gramm kann es kritisch werden", sagt Wolfgang Becker-Brüser, Herausgeber des industriekritischen Arznei-Telegramms. Auch Aspirin, der zweite Klassiker unter den frei verkäuflichen Schmerzmitteln, kommt nicht besser weg. Beim Aspirin-Wirkstoff Acetylsalicylsäure (ASS) sind einige Nebenwirkungen bereits bekannt. Bei mindestens jedem 10.000sten Patienten kommt es zur lebensbedrohlichen Magenblutung. Lediglich für Patienten mit ernsten Herz-Kreislauf-Erkrankungen sei die Einnahme von Aspirin noch zu verantworten – nicht jedoch für Schmerzpatienten. "ASS wirkt nur kurzfristig schmerzlindernd, jedoch tagelang blutverdünnend", sagt Pharmakologe Brune. Das habe zur Folge, dass Wunden, etwa nach einer Zahnbehandlung, wieder zu bluten beginnen. Oder aber Patienten nicht operiert werden können, weil sie Tage zuvor Aspirin geschluckt haben. "Durch die Einnahme von ASS bei Schmerzen geht man ein völlig unnötiges Blutungsrisiko ein."
Kombipräparate: Risiken addieren sich
Auch die Risiken von Ibuprofen oder Diclofenac – neben Magenblutungen auch Herzinfarkte – werden allen Beipackzetteln zum Trotz noch immer systematisch unterschätzt. Besonders kritisch beäugt werden Kombipräparate. Sie trügen oft eine Mitschuld an einer Schmerzmittelüberdosis. Pharmakologe Brune rät dringend ab: "Sie addieren selten die positiven Effekte, dafür die Risiken der einzelnen Wirkstoffe", sagt er. Wer beispielsweise an einer Grippe leidet, gegen Schmerzen Aspririn oder Paracetamol einwirft und sich anschließend ein Kombipräparat als Heißgetränk bereitet, der ahnt oft nicht: Kombinierte Präparate enthalten bereits Paracetamol und den Wirkstoff ASS. Schnell schlägt die Überdosis auf Leber oder Niere.
Die Rezeptpflicht für Aspirin und Paracetamol ist laut Brune in Deutschland schwer durchsetzbar. "Die Menschen haben sich daran gewöhnt, ihre Leiden mit Schmerzmitteln zu betäuben", sagt Pharmakologe Brune. Paracetamol bieten Hersteller inzwischen unter 60 verschiedenen Produktnamen an. Als fiebersenkendes Mittel steht es auch Kindern unter sechs Monaten zur Verfügung. Es gibt Studien, die zeigen, dass Kinder die als Säuglinge Paracetamol verabreicht bekamen, später besonders häufig an Asthma erkranken. Die Datenlage ist noch so widersprüchlich, dass die europäische Zulassungsbehörde das Mittel entlastete.
Um Missbrauch im Spitzensport zu verhindern, könnte man Paracetamol und Aspirin auf die Dopingliste setzen. Theoretisch. Praktisch aber geht das nicht. Warum? Der Mensch hat ein Grundrecht auf Schmerzlinderung.
Quelle: ntv.de