Studien für die Tonne Wenn Forscher im Müll wühlen
06.06.2011, 08:50 Uhr
Alexander Fleming. 1945 erhielt er für die Entdeckung des Penicillins den Nobelpreis. Dabei hielt er seine Forschung zunächst für missglückt.
Wenn Forscher und Wissenschaftler versagen, bekommt das in der Regel niemand mit. Fehlschläge werden nur publik, wenn es sich um einen Versuch handelt, der schon zuvor groß angekündigt worden war. Doch sieht so der wissenschaftliche Alltag aus? Regelmäßig geht etwas daneben, nur allzu oft sind Forschungsergebnisse ein Fall für den Papierkorb. Scheinbar. Ein neues Fachmagazin, das "Journal of Unsolved Questions", will diesem Denken entgegenwirken. Eine Recycling-Tonne, die jeder durchwühlen kann.
Eigentlich wollte Alexander Fleming die Proben wegwerfen. Der Mikrobiologe experimentierte in seinem Labor am St. Mary's Hospital in London mit Eitererregern, so genannten Staphylokokken. Im Jahr 1928 waren diese Erreger gefürchtet: Nicht selten sorgten sie für schwere Infektionen, die häufig auch zum Tode führten. Doch nun – seine Nährböden, auf dem er die Bakterienkulturen angesiedelt hatte, waren wertlos. Ein Schimmelpilz hatte sie befallen und damit waren sie reif für die Tonne.
Doch Fleming stutzte. Ihm fiel auf, dass dort, wo der Pilz wütete, die Staphylokokken abstarben oder sich gar nicht erst ansiedelten. Das machte den Forscher neugierig. Er experimentierte weiter mit dem Pilz und stellte seine Ergebnisse 1929 schließlich im "British Journal of Experimental Pathology" vor. Der lateinische Name der Pilzgattung, mit der er hantierte, war "Penicillium" - Penicillin. Fleming legte mit seiner zufälligen Entdeckung den Grundstein für die Entwicklung der Antibiotika, die nunmehr ihren Siegeszug durch die Medizingeschichte antraten.
Ein Versuch, der zunächst gescheitert schien, sorgte für einen der größten Durchbrüche in der Medizin. Doch wie gehen Wissenschaftler heutzutage mit ihren Fehlschlägen um? Gibt es sie überhaupt? Was an die Öffentlichkeit dringt, sind stets die Erfolge. Ständig schreien die Schlagzeilen der Wissenschaftsredaktionen neue Forschungserfolge aus allerlei Fachgebieten in die Welt hinaus. Doch besteht die Wissenschaft wirklich nur aus Erfolgen? Wie in allen Bereichen des Lebens muss man hier nüchtern sagen: wohl kaum.
Wo geforscht wird, da läuft auch was schief
Sich Misserfolge einzugestehen, fällt jedoch schwer. Auch – oder gerade – für renommierte Wissenschaftler. Was aber passiert mit den Ergebnissen gescheiterter Versuche oder Studien, die scheinbar nutzlos sind? Veröffentlicht werden sie bislang nicht – ein positives Ergebnis ist Voraussetzung für die Veröffentlichung in den einschlägigen Fachzeitschriften.
Das soll sich ändern, meint der Chemie-Doktorand Thomas Jagau von der Universität Mainz im Gespräch mit n-tv.de. Er ist Mitgründer und Redakteur des "Journal of Unsolved Questions", kurz "JUnQ". Die Anlehnung an das englische "Junk" (Müll) ist nicht zufällig. Ihr Motto: "Just dig through the JUnQ to find the hidden treasures." – "Wühle dich durch den Müll und finde die verborgenen Schätze." Denn, so wissen Jagau und seine Mitstreiter: Wo geforscht wird, da geht auch häufiger mal was daneben. Vielleicht sogar häufiger, als man denkt.
Für Ehrlichkeit in der Wissenschaft

JUnQ: Scheinbar wertlose Ergebnisse sollen nicht im Nirvana der Schreibtisch-Schubladen verschwinden.
"Es ist bisher schwierig, jemanden davon zu überzeugen, dass es nicht dessen persönliche Ehre verletzt, wenn er einen Versuch durchführt und der gescheitert ist", sagt Jagau. Es sei für jeden schwierig, sich einzugestehen, etwas nicht auf die Reihe bekommen zu haben. "Vor allem vor größerem Publikum". Doch genau diesem Denken möchten die Initiatoren des JUnQ entgegenwirken: Wer dort seine "Nicht-Ergebnisse" publiziert, muss zuallererst sein Ego über Bord werfen, und sich den Misserfolg eingestehen.
"Ehrpusseligkeit ist dem Erkenntnisgewinn in der Wissenschaft nicht unbedingt förderlich", betont der Chemiker. Denn nicht selten führe die Angst davor, einen Fehlschlag zuzugeben, dazu, dass Ergebnisse geschönt werden. "Die Tatsache, dass man die Ergebnisse von gescheiterten Versuchen nicht veröffentlichen kann, verführt sehr dazu, sie aufzuhübschen", meint Jagau. Daten würden gerne überinterpretiert oder Auffälligkeiten im Versuch würden behauptet, die eigentlich gar nicht da sind. Gute Wissenschaftliche Praxis sieht anders aus.
Andere Perspektive, neue Idee
Das Journal of unsolved Questions, dessen erste Ausgabe im Januar 2011 erschienen ist, soll fortan eine Plattform dafür sein, solche Fehlschläge publik zu machen. Jagau betont jedoch noch einen zweiten, vielleicht wichtigeren Grund für die Gründung des Journals: "Häufig ist es schwierig, überhaupt selbst zu entscheiden, ob ein Versuch gescheitert ist oder nicht." Die persönliche Perspektive, die jeder Wissenschaftler bei einem Versuch einnehme, beschränke nicht selten die Sicht auf gewonnene Erkenntnisse. "Jemand aus einem ganz anderen Fachgebiet findet vielleicht Details in den Ergebnissen, die für seine Forschung wertvoll seien können", erklärt der Mainzer.
JUnQ will so etwas wie die öffentliche Recycling-Tonne der Wissenschaft werden; im Juli erscheint die zweite Ausgabe. Scheinbar wertlose Ergebnisse sollen nicht im Nirvana der Schreibtisch-Schubladen verschwinden, sondern für alle zugänglich gemacht werden.
Alexander Fleming hat vor rund 80 Jahren seinen eigenen Müll genau betrachtet und die bahnbrechende Entdeckung, die ihm schließlich Weltruhm verschaffte und etlichen Menschen das Leben rettete, selbst gemacht. Wir dürfen gespannt sein, was dabei herauskommt, wenn Wissenschaftler nun die Gelegenheit haben, im Abfall der anderen zu wühlen.
Quelle: ntv.de