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"Hippokratischer Eid" Wo neuer Wald wächst

Mit klammen Fingern legen sich die Pflanzer Bündel junger Buchen, Eichen und Douglasien zurecht. Es ist lausig kalt an diesem Morgen im schleswig-holsteinischen Kaltenkirchen, auf einer Brachfläche an der Autobahn. Statt duftendem Waldboden knirscht nichts als frisch gepflügter Sand unter den Füßen. Ein Traktor zieht die Pflanzmaschine hinter sich her, auf der zwei Arbeiter sitzen. Im Abstand von einem Meter stecken sie die Bäumchen in den Boden. Eine Pflugschar reißt die Furche auf, Setzling rein, Finger schnell weg, denn schon schließen zwei schwere Eisenräder den Boden und drücken die Pflanze fest.

Etwa 13 Hektar, insgesamt mehr als 40.000 Bäume. Wenn alles gut geht, wächst hier über die Jahrzehnte ein Mischwald heran, der Wohngebiete gegen Lärm und Staub der Autobahn abschirmt. "Das Wetter ist genau richtig, nur für die Männer sehr kalt", sagt Traktorfahrer Zijadin Krasniqi und schaut auf die blass und ohne Wärme über den Horizont blinzelnde Sonne.

Mit nasskaltem Wetter nicht unzufrieden

Mit dem nasskalten Wetter ist der Leiter des Forstamtes Rantzau, Hans-Albrecht Hewicker, nicht unzufrieden. "Wir sind aber etwas später dran in diesem Jahr." Bevor die Bäumchen von den Forstbaumschulen geliefert werden, müssen die Knospen für den Austrieb im nächsten Frühjahr ausgereift sein. Gepflanzt wird bei jedem Wetter, nur eben nicht bei Frost. Das würden die empfindlichen Bäume nicht überstehen.

Erstpflanzungen hat der Forstamtsleiter mit Sitz im benachbarten Bullenkuhlen im Kreis Pinneberg für dieses Jahr in seinem Bereich nicht geplant. Es geht um Verjüngung und darum, Nadel- in Mischwald zu verwandeln. "Wir sorgen dafür, dass der Wald vielfältiger wird", sagt der in zünftiges Jägergrün gekleidete 64-Jährige. "Denn Deutschland ist ein Land der Buche." In Schleswig- Holstein, dem waldärmsten Flächenland der Bundesrepublik, macht diese Baumart gerade einmal 19 Prozent aus, 39 Prozent sind Nadelbäume.

Im Schutz der Altbäume

In Hewickers Revier schlagen Waldarbeiter aus älteren Nadelholzbeständen so viele Stämme, dass die verbleibenden Bäume ein lichtes Dach bilden. Im Schutze der Altbäume werden junge Buchen gepflanzt. "Ein Baum, der im Schatten steht, wächst gerade nach oben, um mehr Licht zu bekommen", erklärt Hewicker. Anders als im Garten oder Park sollen die Forstbäume keine ausladenden Kronen entwickeln. Der Baum soll in die Höhe wachsen und im Laufe der Zeit die unteren Äste abwerfen. "Oberstand läutert." Nur gute Stämme erzielen hohe Preise, wenn sie in vielen Jahren verkauft werden.

An der Finanzierung des neuen Waldes beteiligen sich unter anderen ein Bürgerverein und ein großer Energiekonzern. In Hewickers Wald gibt es solche Hilfe nicht. Hier muss die Landesregierung ran. Und die hat ihre Vorgaben zur Vermehrung des Waldes in Schleswig-Holstein fast nie eingehalten.

"Das Land hat sich das ehrgeizige Ziel gesetzt, den Waldanteil auf zwölf Prozent der Landesfläche zu erhöhen", heißt es in einer Schrift des Kieler Landwirtschaftsministeriums. Derzeit sind etwa 10,3 Prozent mit Wäldern bedeckt. Die Differenz zwischen Wunsch und Wirklichkeit beträgt 25.000 Hektar, das entspricht der Fläche der nordfriesischen Inseln Sylt, Föhr, Amrum und Pellworm zusammen. "Hinter den angestrebten 1000 Hektar Neuwald jährlich ist die Wirklichkeit zurückgeblieben", räumt das Ministerium ein. Eine Fläche, die einem Sechstel des Sachsenwaldes entspricht, müsste jedes Jahr bepflanzt werden, tatsächlich waren es 2006 knapp 400 Hektar.

Sparkurs setzt Grenzen

Dem Kieler Landwirtschaftsminister Christian von Boetticher (CDU) ist klar: "Wälder dienen dem Grundwasserschutz, dem Klimaschutz und dem Immissionsschutz." Doch der Sparkurs des verschuldeten Landes setzt seinem Wunsch nach Wald Grenzen. So sind die Mitarbeiter der Landesforstverwaltung einmal mehr mit einer Reform konfrontiert, die sie diesmal in eine Anstalt des Öffentlichen Rechts versetzt und die Planstellen reduziert. Zahlreiche Förstereien und alle Forstämter sollen geschlossen werden. Innerhalb der Forstverwaltung ist die Stimmung deprimiert - und das angesichts der Hoffnung, mit einem wachsenden Wald auch etwas gegen den Klimawandel zu unternehmen.

Wie erfolgreich dagegen die Verjüngung der Fichten- und Kiefernwälder vorangeht, ist seit 15 Jahren in Norderstedt nicht weit von der Hamburger Landesgrenze zu verfolgen. Zwischen alten Stämmen recken sich Buchen bis zu zehn Meter in die Höhe. "Die wachsen prima", bestätigt Hewicker. Die Schritte federn auf einer dicken, erdig riechenden Humusschicht, Blätter und Nadeln bilden eine weiche Streu - Lebensraum für Bakterien und Pilze, Insekten und Mäuse. Ganz glücklich ist der Waldexperte dennoch nicht, denn die Orkane der vergangenen Jahre und der Borkenkäferbefall haben viele der alten Bäume zerstört, so dass die nachwachsenden Buchen zu viel Licht bekommen. "Sie gehen sehr in die Breite."

Völlige Zerstörung des Ökosystems Wald

Immer wieder muss Hewicker die Frage beantworten, wie es überhaupt zu Nadelwald-Monokulturen in Schleswig-Holstein kommen konnte, wo das Land doch ursprünglich ganz mit Laubwald bestanden war. Buche und Eiche, Esche und Ahorn, Ulme und Linde, Birke und Erle sind je nach Standort Hauptvertreter des Naturwaldes im Norden Deutschlands.

Das war, bevor der Mensch die Wälder für Äcker rodete. Werften und Baugewerbe verschlangen Unmengen dicker Stämme, viele wurden exportiert. Den Rest erledigten die Bauern. "Sie trieben ihr Vieh zur Mast in den Wald, Schweine und Rinder fraßen Eicheln und Bucheckern und alle frischen Triebe, so dass sich der Wald nicht mehr verjüngen konnte." Außerdem holten die Bauern Laub und Humus aus den Wäldern, um Streu für die Ställe zu haben. Am Ende dieser jahrhundertelangen Misswirtschaft stand die völlige Zerstörung des Ökosystems Wald in Schleswig-Holstein. Um 1800 trugen weniger als vier Prozent der Landesfläche Wald. "Die Situation war desolat", sagt Hewicker.

Nachhaltige Wirtschaft im Wald

Anderen Regionen ging es nicht besser. Die Lüneburger Heide ist eine bis auf den Sandboden zerstörte ehemalige Waldlandschaft. Ein großer Teil des Holzes landete in den Öfen der Lüneburger Salzsieder, der humusreiche Boden wurde "abgeplaggt" und kam als Dünger auf die Felder. Heute gilt die vom Dichter Hermann Löns verklärte Heide selbst als schützenswerte Landschaft und ist doch ohne diesen Raubbau kaum vor dem Zugriff des wieder vordrängenden Waldes zu bewahren.

Ende des 18. Jahrhunderts versuchten die Landesherren in Schleswig-Holstein zu retten, was noch zu retten war. Die letzten Wälder wurden mit Gräben und Wällen gegen das Vieh geschützt. Inzwischen hatte der sächsische Berghauptmann Carl von Carlowitz 1713 das Prinzip der nachhaltigen Wirtschaft im Wald entwickelt. Es dürfe nie mehr Holz geerntet werden als nachwächst, lautet der Grundsatz.

Laubbaumsetzlinge zur Wiederbewaldung in den offenen, unter Versauerung leidenden, schleswig-holsteinischen Sandboden zu stecken, wäre aussichtslos gewesen. Hewicker berichtet vom beschwerlichen Versuch, von 1790 an die Heide zwischen Bad Bramstedt und Barmstedt auf Geheiß aus Kopenhagen mit Kiefern und Fichten wiederaufzuforsten. In den Aufzeichnungen heißt es, die Heide sei abgebrannt und mit dem Spaten umgegraben worden. Nicht nur Hagel setzte den jungen Pflanzen zu, das Wurzelwachstum wurde durch eine betonharte Orthsteinschicht im Boden behindert - Folge der Bodenversauerung. Der Versuch scheiterte. "Auf der Heide hat der liebe Gott keinen Wald gewollt", schrieb der verantwortliche Förster damals resigniert.

Plünderungen nach 1945

Ein zweiter Versuch brachte größeren Erfolg, ein gigantisches Unternehmen mit vielen hundert Arbeitskräften. Der Boden wurde mit Dampfantrieb 1,20 Meter tief gepflügt, die Orthsteinschicht aufgebrochen und frischer Mineralboden an die Oberfläche geholt. "Dort wuchsen die Kiefern und Fichten prima", sagt Hewicker. "Von 1870 bis 1914 hatten wir die erfolgreichste Aufforstungswelle."

Schon damals war den preußischen Beamten klar, dass dieser Wald, wenn er ausgewachsen ist, zu einem Mischwald weiterentwickelt werden muss. Zwei Weltkriege warfen das Projekt katastrophal zurück. Ältere erinnern sich noch an die Plünderung der Wälder nach 1945, um Feuerholz zu beschaffen. Die Alliierten gingen mit großen Kahlschlägen zu Werke. Den "Reparationshieben" fielen 14.000 Hektar Wald zum Opfer, das waren zehn Prozent des damaligen Bestands.

1953 startete das "Programm Nord", mit dem vor allem kleinflächig neuer Wald entstand. Heute sind es insgesamt wieder 162.000 Hektar, die 10.000 Besitzern gehören. Gut die Hälfte ist in privater Hand, der Landeswald macht 31 Prozent aus, 15 Prozent gehört den Kreisen und Kommunen, fast vier Prozent dem Bund. "Im Wald halten sich Fehler sehr lange", meint Hewicker angesichts dieser Geschichte.

Per Container nach China

Viele Jahre lang hatten der Forstamtsleiter und seine Kollegen Mühe, Holz zu anständigen Preisen zu verkaufen. Das hat sich geändert. "Es hat sich Erstaunliches getan." Weltweit ist gutes Holz so gefragt, dass Buchenstämme heute aus Holstein per Container nach China verschifft werden. Anders als auf dem Agrarmarkt herrscht im Wald Globalisierung pur. Im Durchschnitt liegt der Erlös je Festmeter bei etwa 50 Euro, von weniger als 20 Euro für Fichtenindustrieholz und bis weit über 1000 Euro für Eichenfurnierholz.

Einen ordentlichen Anteil am Boom haben Hausbesitzer mit Kaminofen. Wer selbst mit kreischender Motorsäge in den Wald will, um Stämme und Äste zu zerkleinern, muss sich in Geduld üben. "Wir haben eine Warteliste mit 180 Leuten." Außerdem ist zunächst ein achtstündiger Kettensägenkurs Pflicht und eine Ausrüstung mit Sicherheitsschuhen, Helm, Gesichtsschutz, Handschuhen und Schnittschutzhose. "Sonst haben wir bald den ersten Toten hier im Wald." Wer einen Raummeter Holz selbst sägt, muss 15 bis 18 Euro zahlen, wer fertige Meterstücke am Waldesrand abholen möchte, ist mit 20 Euro mehr dabei.

Dem Wald dienen

Dabei gilt streng der Nachhaltigkeitsgrundsatz. Hewicker verwahrt in seinem urigen Büro mit Jagdtrophäen an der Wand große Folianten, die Revierbücher. Hier wird Parzelle für Parzelle aufgelistet, wo wie viel Wald steht, wie viel im Jahr nachwächst und was geerntet werden darf. "Das Buch ist die Absicherung, dass es nachhaltig zugeht, das ist der hippokratische Eid der Forstleute", sagt Hewicker mit ernstem Blick.

Stolz präsentiert das Kieler Landwirtschaftministerium die Bilanz: Der Holzzuwachs beträgt insgesamt 1,2 Millionen Kubikmeter pro Jahr, eingeschlagen werden 540.000 Kubikmeter. Die Zahlen spiegeln wider, dass sich Schleswig-Holsteins Wald wegen der wiederholten Zerstörung noch in der Aufwuchsphase befindet, 61 Prozent der Bestände sind jünger als 60 Jahre.

Das belegt aber auch den Beitrag, den ein wachsender Wald gegen den Klimawandel leisten kann. In jeder Tonne Holz steckt der Kohlenstoff aus 1,85 Tonnen Kohlendioxid. Eine noch größere Menge des klimaschädlichen Gases wird dem Kreislauf entzogen, weil sich im Waldboden Humus ansammelt. Neuaufforstungen, wachsende Wälder und Holz als Baustoff verbessern die regionale Kohlendioxidbilanz.

Hewicker dient dem Wald seit mehr als 40 Jahren, doch er weiß, dass er nur einen Wimpernschlag der Geschichte dieses von Mythen umrankten Naturraumes begleiten darf. "Wald ist ein Generationenprojekt", sagt der 64-Jährige und sorgt sich um die Zukunft seiner jüngeren Kollegen. In Schleswig-Holsteins Wäldern wird sich mit der Reform vieles ändern. Wer dabei Fehler macht, bürdet späteren Generationen die Folgen auf.

Von Sönke Möhl, dpa

Quelle: ntv.de

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