
Nicht jeder, der allein ist, ist auch einsam.
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Gelegentliche Einsamkeitsgefühle gehören wahrscheinlich zum Menschsein dazu. Doch manchmal übernimmt die Einsamkeit das ganze Leben, wird quälend und schmerzhaft. Über ein evolutionäres Erbe, das gerade wieder heiß diskutiert wird.
Es gibt keine eindeutige Diagnose dafür und trotzdem wird Einsamkeit inzwischen als Epidemie angesehen. Immer mehr Menschen scheinen sich damit anzustecken. Sie trifft Jugendliche genauso hart wie die Gruppe der 30- bis 40-Jährigen oder Senioren. Hinter dem Phänomen verbirgt sich die tief im Menschen verwurzelte evolutionäre Angst vor Ausstoßung. "Seit Urzeiten ist es für uns wichtig, Kontakte zu suchen und aufzubauen", erklärt der Neurologe Walter Möbius n-tv.de. Dieser Kontakt zu anderen sicherte unserer Spezies das Überleben und ist bis heute überlebenswichtig. So wiesen Forscher der University of British Columbia 2010 nach, dass die Sterblichkeit bei Menschen, die angaben, sich oft einsam zu fühlen, signifikant höher war.
"Wenn Steinzeitmenschen allein und isoliert waren, dann waren sie wirklich bedroht", sagt auch Psychologie-Professorin Maike Luhmann n-tv.de. Sie forscht an der Ruhr-Universität Bochum zu Einsamkeit. "Die Idee ist, dass sich die Individuen, die in der Lage waren, Einsamkeit zu empfinden, eher vermehrt haben." Denn sie "haben dieses Leiden in Antrieb umgewandelt, wieder zur Gruppe zurückzukehren".
Einsamkeit zu empfinden ist einerseits überlebensnotwendig, andererseits aber unangenehm, geradezu schmerzhaft und krankmachend dazu. Der SPD-Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach, der sogar einen Regierungsbeauftragten für Einsamkeit fordert, begründete seinen Vorschlag unter anderem mit den massiven gesundheitlichen Auswirkungen. Von Einsamkeit ausgelöste Depressionen, Angststörungen oder Erkrankungen des Herzkreislaufsystems beeinträchtigen seiner Meinung nach nicht nur die Lebensqualität der Betroffenen, sondern führen auch zu hohen Kosten für das Gesundheitssystem.
Fataler Kreislauf
Einsamkeit ist jedoch auch kompliziert. Der eine Mensch fühlt sich selbst inmitten einer Gruppe von Freunden einsam. Der andere verbringt lange Tage des Alleinseins und genießt genau das, ohne sich auch nur einen Moment als einsam zu empfinden. "Es geht nicht nur darum, eine Gruppe um sich zu haben, sondern darum, dass es eine Gruppe ist, auf die man sich verlassen kann", begründet Luhmann diese verschiedene Wahrnehmung. "Einsam fühlt man sich dann, wenn man das Gefühl hat, dass die Qualität der Beziehungen, die man hat, nicht ausreicht." Unabhängig von den eigenen sozialen Fähigkeiten macht die Einsamkeit auf soziale Bedürfnisse aufmerksam, die nicht erfüllt werden. "Das hängt damit zusammen, dass den Leuten trotz allem Wohlstand und aller Technik bewusst wird, dass etwas verloren gegangen ist: die Menschlichkeit", sagt Walter Möbius, der sich selbst als Arzt aus Leidenschaft beschreibt.
Wer einmal in Einsamkeitsgefühlen gefangen ist, kommt oft in eine Spirale, die ihn immer weiter hineinzieht. "Einsame werden misstrauisch und fassen selbst gutgemeinte Gesten falsch auf", beschreibt Möbius diesen Prozess. "Das ist nicht direkt paranoid, aber der Gedanke überwiegt, dass der andere einem im Grunde genommen nicht gut gesonnen ist." Auch das ist evolutionäres Erbe, weil man ja tatsächlich bedroht war, wenn man die Gruppe nicht um sich hatte. Dazu kommt die Ausstrahlung als Leidender und Einsamer. Sie wirkt auf andere abweisend. "Das Widerspiegeln der eigenen Abwehr von Zuwendung treibt die Betroffenen immer weiter in den Abgrund", meint Möbius. So verstärkt sich der Kreislauf, in dem man immer isolierter und einsamer wird.
In ihrer Not werden viele Einsame durchaus erfinderisch. Aus Japan sind Fälle bekannt, in denen hochbetagte Senioren begannen zu stehlen. Dabei ging es gar nicht so sehr um die gestohlenen Waren, sondern vor allem darum, gefasst zu werden. Im Gefängnis sitzen dann mehrere alte Leute zusammen. Sie haben Essen und ein Dach über dem Kopf, vor allem aber Gesellschaft.
Viele Wege führen hinaus
Doch so wie es viele Wege gibt, einsam zu werden, gibt es auch zahlreiche und vor allem bessere Auswege. Nach dem Umzug in eine neue Stadt reicht es oft schon, sich einen Verein zu suchen, sich ehrenamtlich zu engagieren, sich im Chor oder im Fitnessstudio anzumelden. So ergeben sich neue Kontakte, Freundschaften können wachsen, die Einsamkeit bleibt eine Episode. Anders sieht es nach dem Verlust des Partners aus. Es braucht Zeit, Tod oder Trennung zu verarbeiten und zu akzeptieren. Und manchmal nutzen alle guten Ideen nichts. Dann kann eine Psychotherapie helfen, aus der Situation auszubrechen und die Gedanken anders zu lenken, bis man in der Lage ist, soziale Situationen wieder positiver zu sehen.
Möbius empfiehlt denjenigen, die sich um Einsame bemühen, vor allem Geduld. "Man muss sich mit echtem Interesse an jemanden wenden und darf sich nicht nach der ersten abweisenden Geste abwimmeln lassen." Irgendwann bricht eine Einladung oder eine sanfte körperliche Berührung vielleicht das Eis. Bei vielen Einsamen spiele auch Scham eine Rolle. In einer Welt, in der es allen super geht, erscheint die Einsamkeit als Beweis für das eigene Versagen.
Vor allem die sozialen Netzwerke werden für die Inszenierung eines perfekten Lebens immer wieder kritisiert. Luhmann schaut dabei vor allem auf Instagram, das für sie das Netzwerk ist, das die positiven Seiten besonders hervorhebt. "Die Forschungsergebnisse dazu sind jedoch nicht eindeutig." Die 38-Jährige sieht zudem auch positive Aspekte für die technikaffine jüngere Generation. Whatsapp und Skype beispielsweise erleichtern es vielen, mit anderen im Kontakt zu sein.
Luhmann ist auch nicht sicher, ob es wirklich den Einsamkeitszuwachs gibt, den viele vermuten. "Wir wissen nicht genau, wie es vor 20, geschweige denn vor 50 Jahren war", sagt sie n-tv.de. "Es gibt aus dieser Zeit keine Zahlen." Doch gesellschaftlich habe das Thema auf jeden Fall Fahrt aufgenommen.
Das liegt nicht zuletzt daran, dass sich viele Menschen einsam fühlen und das auch zugeben. Laut einer Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) in Köln ist knapp jeder Zehnte in Deutschland einsam. Die Untersuchung basiert auf Daten des Sozio-ökonomischen Panels für 2017. Das ist eine fortlaufende Befragung von 30.000 Menschen in 15.000 Haushalten.
"Wenn es nur 5 oder 10 Prozent sind, die jetzt gerade unter Einsamkeit leiden, dann sind das immer noch in absoluten Zahlen viele Menschen", sagt Luhmann über diese Größenordnung. "Insofern ist es gut, wenn das Problem offen angesprochen und damit auch ein bisschen enttabuisiert wird. Allein schon dadurch, dass man sagt: Du bist nicht allein, das geht auch anderen so." Wenn aus diesem Entlastungsgefühl eine neue Gemeinschaft wächst, hat es die Einsamkeit gleich ein bisschen schwerer.
Quelle: ntv.de