
Noch beim Lernen oder schon beim Daddeln, das ist nicht mehr so klar zu trennen.
(Foto: imago images/U. J. Alexander)
Home-Schooling, Kontaktbeschränkungen und zum Jahresende ein harter Lockdown: Das Corona-Jahr 2020 hat auch das Familienleben stark geprägt. Vier Experten wagen für ntv.de eine Prognose, wie die Pandemie die Erziehungstrends im neuen Jahr prägen wird.
"Die Lehrer werden nur noch online erreicht, die Freunde werden nur noch online erreicht. Nur die Eltern gibt es die ganze Zeit auch offline. Das macht die Offline-Sphäre endgültig zum uncoolsten Ort der Welt", schreibt Autor und Journalist Tilmann Prüfer im Vorwort seines aktuellen Buchs "Jetzt mach doch endlich mal das Ding aus!".
Mit der Corona-Krise und dem ersten Lockdown im Frühjahr kam für schulpflichtige Kinder und deren Eltern die Herausforderung des Homeschoolings - diese Thematik hat sich auch in Prüfers Buch niedergeschlagen, entstanden aus der beliebten wöchentlichen Kolumne des Zeit-Magazins "Prüfers Töchter", in der er über sein Leben mit vier Töchtern schreibt.
Insbesondere die Mediennutzung habe sich in diesem Jahr radikal und nachhaltig gewandelt, so der Autor: "In diesem Jahr war es zum ersten Mal so, dass Kinder ihr Smartphone für den Schulunterricht einsetzen mussten. Bis dahin war das Gerät in den Augen von Eltern ein Freizeitvergnügen. Ich glaube, dass es künftig für Eltern immer schwieriger wird, die Bildschirmzeit ihrer Kinder zu kontrollieren."
Gemeinsame Zeit wird wichtiger
Die Grenzen zwischen privater und schulischer Nutzung seien fließend und für Eltern nicht immer leicht zu überblicken. "Wie sollen Eltern jetzt wissen, ob der Nachwuchs in der Lerngruppe auf WhatsApp ist oder nur mit Freunden chattet? Oder ob er sich auf der Lernplattform der Schule tummelt oder bei einem Online-Spiel? Der Ansatz, dass man die Online-Zeit der Kinder mit Software-Einstellungen begrenzt, führt nicht weiter", sagt Prüfer. Zumal Eltern meist selbst keineswegs bereit seien, sind, ihrerseits ihre Bildschirmzeit zu begrenzen. "Warum sollten Kinder etwas akzeptieren, das ihre Eltern für sich selbst ausschließen? Es ist für eine Familie besser, wenn man sich gemeinsame Regeln gibt. Das Handy als wichtigen Teil der kindlichen Privatsphäre wahrnehmen, das sollten Eltern respektieren."
Der Autor wirbt stattdessen dafür, den Fokus auf gemeinsame Zeit zu legen, diese ernst zu nehmen und sich als Familie gemeinsame Aktivitäten vorzunehmen. "Familienzeit wird künftig nicht mehr der gemeinsame Alltag sein, der irgendwie übrig bleibt, stattdessen wird man sie einplanen, wie gemeinsame Zeit mit dem Partner", sagt er voraus. Bei all der Zeit, die Kinder und Eltern in der digitalen Welt verbringen, werde das Analoge künftig umso wertvoller. "Erfahrungen in der nicht-digitalen Welt sind viel eindrücklicher als alle Pixel-Erlebnisse. Ob es nun ein Ausflug ist oder gemeinsames Kochen. Das Digitale wird immer mehr das Gewöhnliche sein", so Prüfer. Er glaubt auch an ein Comeback des guten alten Brettspiels: "Das ist übrigens nie ausgestorben." Mehr als Dreiviertel der Bundesbürger geben an, ein Mensch-Ärger-Dich-Nicht-Spiel zu Hause zu haben. Schön wäre es, wenn es künftig öfter hervorgeholt würde."
Das Digitale als Chance
Mit dem Thema Medienkompetenz beschäftigt sich die Bestseller-Autorin Patricia Cammarata schon seit Jahren. Ihr Buch "Dreißig Minuten, dann ist aber Schluss", das Eltern anleiten soll, mit Kindern "tiefenentspannt durch den Mediendschungel" zu navigieren, erschien passenderweise im ersten Lockdown im März. Cammarata wirbt für eine Abkehr von starren Regeln für Bildschirmzeiten. Sie sieht im Digitalen "einen weiteren Ort, an dem Kinder und Jugendliche Menschen begegnen können und ihre sozialen Kontakte pflegen oder ihren Hobbys nachgehen". Die Expertin hofft, dass sich das Verhältnis zu Bildschirmzeit im kommenden Jahr nachhaltig ändern wird und der Fokus darauf liegt, im digitalen Raum eine Chance und nicht etwa eine Bedrohung zu sehen: "Die Pandemie sollte uns gezeigt haben, dass das Digitale in Zeiten der physischen Distanzierung eine beinahe gleichwertige Alternative darstellen kann. Wie schön, dass wir Kontakt zu den Großeltern halten konnten, wie schön, dass ausgefallene Geburtstagspartys mit Onlinespielen kompensiert werden konnten, wie wichtig, dass Jugendliche in Zeiten von Homeschooling den Klassenchat nutzen konnten, um dem Informationschaos Herr zu werden und sich weiter als Teil einer Klassengemeinschaft zu fühlen."
Für das Jahr 2021 sagt Cammarata einen großen Trend voraus: "Beziehungsarbeit. Die hilft in allen Lebenslagen. Wo es Vertrauen gibt, kann jede Herausforderung gemeistert werden. Sich zu bemühen, die Motive und Bedürfnisse von Kindern zu verstehen, ist ein wichtiger Hebel in allen Themen. Auch in der Medienerziehung übrigens", so die Autorin.
Einen Zuwachs an Bedeutung analoger Aktivitäten sieht sie nicht - und fände es stattdessen hilfreich, nicht immer in Gegensätzen analog oder digital zu denken. "Kinder und Jugendliche finden Kartenspiele wie 'Halt mal kurz' genauso lustig wie das digitale 'Among us'. Sie sind da flexibel. Vielleicht könnte es ein Ansatz sein, dass sich Eltern anpassen. Es gibt vieles, was Jugendliche interessiert, was beide Ausprägungen hat. Das Kartenspiel 'Magic' kann man zum Beispiel sowohl digital als auch analog spielen. Plattformen wie Tabletopia, wo man Brettspiele miteinander spielen kann, ohne sich zu treffen, sind ein Segen in der Pandemie", so die Expertin.
Mediennutzung wird sich normalisieren
Jan-Uwe Rogge, einer der erfolgreichsten Erziehungsexperten Deutschlands, glaubt hingegen nicht an eine nachhaltige Veränderung des Medienkonsums bei Kindern und Jugendlichen. Rogge, Jahrgang 1947, schreibt seit Jahrzehnten Erziehungsratgeber, Titel wie "Kinder brauchen Grenzen" wurden Bestseller und in viele Sprachen übersetzt. Rogge leitete außerdem schon in den siebziger und achtziger Jahren Forschungsprojekte mit dem Schwerpunkt Kindermedien an der Universität Tübingen. Der Einfluss von Corona werde überschätzt, sagt er. "Sollten sich coronabedingte Einschränkungen bis weit in das Jahr 2021 fortsetzen, bleibt der große Zuspruch zum Bildschirm bestehen, ansonsten wird sich die Mediennutzung der Kinder auf ein normales Niveau einpendeln", sagt er voraus.
Auch neue Erziehungstrends sieht er nicht - es sei denn, man konstruiere sie. "Eine Generation 'Corona', wie manche prognostizieren, wächst da nicht heran. Das ist Schwarzmalerei und Wichtigtuerei. Allerdings werden die psychischen und emotionalen Folgen der Krise eine Rolle spielen", sagt der Familienberater. Dabei werden diese sich jedoch von Kind zu Kind verschieden darstellen. Die Folgen der Krise ließen sich dabei am besten gemeinsam mit dem Kind aufarbeiten. "Kinder brauchen eine wertschätzende Begleitung, keine noch so gutgemeinte Bevormundung", so Rogge.
Bedürfnisorientierte Erziehung bleibt wichtig
Die Autorinnen Katja Seide und Danielle Graf sind ebenfalls seit Jahren auf der Spiegel-Bestsellerliste vertreten, ihr 2016 erschienenes Buch "Das gewünschteste Wunschkind aller Zeiten treibt mich in den Wahnsinn" gilt mittlerweile als moderner Klassiker der Erziehungsratgeber-Literatur und ihr Blog hat in den nahezu acht Jahren seines Bestehens über 35 Millionen Zugriffe verzeichnet.
Die Expertinnen glauben, dass die Krise Eltern gezeigt hat, dass eine vorübergehend längere Bildschirmzeit gar nicht zu den von ihnen befürchteten Problemen führt. "Die meisten Kinder können ihren Medienkonsum gut regulieren, auch wenn sie oft eine von den Eltern abweichende Vorstellung davon haben, wie lang diese pro Tag sein sollte. Womöglich haben Eltern in der Krise gemerkt, dass ihre Kinder sich trotz langer Medienzeiten gerne anderen Aktivitäten zuwenden, rausgehen und eben nicht stunden- oder tagelang vor den Bildschirmen versinken, sodass sie ihnen künftig mehr Selbstbestimmung zugestehen können", so die Expertinnen.
Für 2021 gehe der Trend weiter zu bedürfnis- und beziehungsorientierter Erziehung: "Eltern beschäftigen sich immer mehr damit, wie ihre Kinder in einem Umfeld aufwachsen können, in dem sie nicht ausgeschimpft oder bestraft werden. Stattdessen wollen sie einen Weg finden, wie man gemeinsam als Familie auf wertschätzende, gewaltfreie und kooperative Art und Weise miteinander umgehen kann, um den Alltag möglichst entspannt zu erleben." Und das analoge Leben? Lieben Kinder mindestens so sehr, wie mit der Konsole oder dem Handy zu daddeln oder sich Videos anzuschauen. Kinder spüren, dass gemeinsam Spielen, Lachen und Interagieren ihr Grundbedürfnis nach Zugehörigkeit und emotionaler Verbundenheit viel besser und nachhaltiger erfüllen, als technische Medien, so Graf und Seide. "Nichts verbindet Familien mehr, als gemeinsames Spiel und Aktivitäten in der freien Natur. Mit der voranschreitenden Technisierung gewinnen analoge Aktivitäten in vielen Familien an Bedeutung."
Quelle: ntv.de