Leben

Touris, die mit Steinen werfen "Geld verdienen gern, aber nicht um jeden Preis"

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Der Aufstieg zum Großen Widderstein ist nicht ohne, der Ausblick dafür unbezahlbar.

(Foto: J. Vetten )

1,7 Millionen Übernachtungen auf rund 5000 Einwohner: Das kann ja nicht gutgehen. Oder etwa doch? Wie das österreichische Kleinwalsertal mit einem ungewöhnlichen Lenkungskonzept um seine Identität und die Unberührtheit der Natur kämpft - und gleichzeitig versucht, seine Besucher glücklich zu machen.

Auf einer steilen Bergwiese im Schatten des Großen Widdersteins liegen Tausende Steine herum. Manche sind nur faustgroß, manche haben Kleinwagen-Format, aber alle sind im Laufe der Jahre mit Muren und Lawinen dort angekommen, wo sie jetzt liegen. Und keiner von ihnen ist am richtigen Platz, findet Wolfgang Ott. Der Bergbauer zeigt mit dem Schwert seiner riesigen Motorsäge auf einen Steinhaufen in der Nähe und sagt in der isch-lastigen Mundart des Oberallgäus: "Jeder Stein weniger ist eine Handvoll mehr Futter für die Kühe. Und die Haufen sind ein wichtiges Biotop für Reptilien." Zwei Arbeiter aus dem Rheinland, eine ältere Dame aus Unterfranken, eine Lehrerin auf der Suche nach Inspirationen für die nächste Klassenfahrt und eine Handvoll weiterer Freiwilliger, nicken und ziehen los.

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Ein Freiwilliger beim Steinewerfen - auch das kann Urlaub sein.

(Foto: J. Vetten )

Die nächsten drei Stunden erfüllt das satte Klonk von Stein auf Stein die Luft in dem spitz zulaufenden Bergtal. Nur ein paar Dutzend Meter weiter marschieren im Minutentakt Bergwanderer in bunter Funktionskleidung vorbei Richtung Gipfel und wundern sich, was ihre bunten Doppelgänger abseits des Weges auf der anderen Seite des Baches da machen - und wohl auch, was die dabei zu lachen haben. Die Antwort ist die gleiche wie bei ihnen selbst: Urlaub.

Urlaubshochburg und auch Heimat?

Mehr als 350.000 Menschen verbringen jedes Jahr ihre Ferien im Kleinwalsertal, das nur über eine einzige Straße mit dem Rest der Welt verbunden ist - und zwar vom deutschen Wintersportort Oberstdorf aus. Auf allen anderen Seiten ist die österreichische Gemeinde von hohen Bergen umgeben, gekrönt vom 2536 Meter hohen Großen Widderstein. Wandern, Biken und Klettern im Sommer, Skifahren, Rodeln und Langlaufen im Winter, eingebettet in herrlichstes Alpenpanorama. Und wer weniger sportliche Ambitionen hat, kommt auch im Sommer mit Seilbahnen auf die Gipfel, teils gibt es sogar innerorts Liftanlagen. Kurzum: Das Kleinwalsertal ist ein echtes Urlaubsparadies.

Wie das aber nun mal so ist mit Urlaubsparadiesen: Je mehr Menschen kommen, desto weniger Paradies. Nicht einmal neun Kilometer fährt man von Riezlern am Anfang des Tals bis nach Baad am anderen Ende, aber auf der kurzen Strecke reihen sich die Hotels aneinander wie an einer Perlenkette. In weit mehr als 10.000 Gästebetten wird 1,7 Millionen Mal pro Jahr übernachtet. Bei gerade mal etwas über 5000 Einwohnern ist das eine echte Ansage, verbunden mit einer großen Frage: Urlaubshochburg und lebenswertes Zuhause für die einheimischen Menschen und Tiere, geht das auf Dauer zusammen?

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Bergbauer Ott vor satter Jause und (größtenteils) steinfreier Wiese.

(Foto: J. Vetten)

Die Freiwilligenaktion an diesem Tag ist einer von mehreren Versuchen, eine Antwort darauf zu finden. Die Idee: Urlauber und Einheimische auch außerhalb der Hotels, Hütten und Restaurants zusammenzubringen, um das gegenseitige Verständnis zu fördern und die Gäste durch Teilhabe zu sensibilisieren. An diesem sonnigen Sommertag klappt das ganz hervorragend: Für die Freiwilligen ist der Ausflug eine willkommene Abwechslung im Urlaubsplan - mitsamt satter Jause auf steinfreier Wiese am Ende des Einsatzes. Und für die Bergbauern, in dem Fall Wolfgang Ott, ist "Natur bewusst erleben", wie die Initiative von Kleinwalsertal Tourismus heißt, eine echte Hilfe: Es gibt mittlerweile einfach zu wenige von ihnen - statt wie früher 50 bis 70 Hektar umfasst eine Viehweide heute bis zu 1000 Hektar. Da hinterherzukommen ist quasi unmöglich, in der Folge verwalden die Alpen mehr und mehr und das wiederum ist eine echte Gefahr für die Artenvielfalt.

Das alles erklärt Großhirte Ott, während er mit seiner Motorsäge den steilen Hang hinauf zu einer Gruppe junger Fichten klettert: "Das sind Flachwurzler, die werden von Lawinen einfach mitgerissen. So schaffen wir Platz für Latschenkiefer und Erlen, also Tiefwurzler", ruft Ott der Gruppe zu und fällt ansatzlos das erste Bäumchen. Das kracht genau auf die Stelle, an der eben noch Ole Ipsen stand.

Das ganze Tal - ein Versuchslabor

Ipsen ist einer der Köpfe hinter "Natur bewusst erleben". Während der Tourismusmanager dermaßen entspannt dem fallenden Baum ausweicht, dass sogar der Schmetterling, der sich wie bestellt auf seinem Knie niedergelassen hat und einfach sitzen bleibt, erzählt Ipsen von den Anfängen der Initiative 2018. "Es sollte zuerst lediglich um den Schutz eines Hochmoores gehen, aber wir haben schnell gemerkt, dass Naturvermittlung und die Lenkung von Touristenströmen der Schlüssel zu etwas viel Größerem sein könnten." Eben eine Antwortmöglichkeit auf die Frage, wie das Tal seine Identität behalten könne.

Seitdem "saßen wir mit mehr als 200 Menschen an einem Tisch, vom Jäger über den Hotelier bis zum Forstbesitzer." Und jeder natürlich mit einer eigenen Meinung, was für die Zukunft des Tals wichtig sei. "'Gleitschirmfliegen, Riesenproblem' hieß es dann zum Beispiel in der Gemeindeversammlung. Aber ist es das auch wirklich?", beschreibt Ipsen eine der größten Herausforderungen, die jeweiligen Perspektiven übereinander zu legen.

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Fast überall im Kleinwalsertal fantastisch: Das Panorama.

(Foto: J. Vetten)

Um das tatsächlich objektiv bewerten zu können, beauftragten die Kleinwalser die Uni Innsbruck und ein Planungsbüro mit einer "Analyse von Ökosystemleistungen": Vereinfacht gesagt sollte die Untersuchung den tatsächlichen Wert der Natur berechnen, also auch monetär. Heraus kamen am Ende gut 400 Seiten Material, auf denen wirklich jeder Quadratmeter im Tal einer Leistung zugeordnet wurde, vom Wasser als Lebensraum bis zum Wald in seiner Funktion als Lawinenschutz - zusammengefasst in einem übersichtlichen Maßnahmenbericht.

Klingt kompliziert und bürokratisch, war aber tatsächlich der entscheidende Baustein, um die verschiedenen Fraktionen und Interessensgruppen im Tal an einen Tisch und miteinander ins Gespräch zu bringen. Auch und vor allem, weil es dabei immer wieder zu Konflikten kam und kommt. Zum Beispiel bei der Einrichtung von Schongebieten für Wild, erzählt Ipsen: "Es gibt Menschen, die sagen, wir müssen ganze Täler sperren aus ökologischer Sicht. Und andere die sagen, aber das machen wir doch schon seit Jahren." Einer von denen, die den Menschen aus viel mehr Gebieten im Tal aussperren wollen, ist Matthias Fritz - ausgerechnet ein Hüttenbetreiber.

Im Winter einfach mal zusperren

In Shorts und Shirt, mit langem Haar und einem breiten Lächeln, steht Fritz, den im Tal alle nur Matl nennen, auf der Terrasse der Oberen Gemstelhütte und verbreitet enorm gute Vibes. Man würde den Mann eher an einem Surfstrand vermuten, wären da nicht der knorrige Wanderstock in seiner Rechten und das Alpenpanorama im Hintergrund. Jeden Morgen steigt der Endfünfziger von der Hinteren Gemstelhütte, seinem zweiten Standbein 400 Meter tiefer, auf die 1692 Meter auf. Zumindest im Sommer, im Winter sperrt der Wirt seine beiden Hütten zu.

"Alles, was im Sommer stattfindet, ist völlig in Ordnung", sagt Fritz. "Da können die Mountainbiker meinetwegen fahren, wo sie wollen. Da brauchen sich die Jäger auch nicht zu beschweren, dass ihnen das Wild weggehuscht ist, müssen sie halt nochmal ansitzen." Nur in der kalten Jahreszeit, da müsse komplett Ruhe herrschen, denn "die Gams ist ein Fluchttier und schaltet den Kreislauf im Winter komplett runter. Flüchtet sie einmal, verbraucht sie in dieser Fluchtminute so viel Energie, wie wenn sie drei Wochen in Ruhe gelassen wird - und beim zweiten Mal stirbt die."

Fritz deutet mit seinem Stock in das Tal unter ihm, durch das im Sommer die Wanderer und im Winter die Skitourengeher heraufkommen: Das alles gehört ihm, 560 Hektar Wald und Berg. Während "Natur bewusst erleben" mit abgesteckten Routen für die Wintersportler einen Kompromiss versucht, will Fritz am liebsten alles sperren. "Das Konzept ist ja super, und die Ranger machen sicher auch eine Spitzenarbeit, aber schwarze Schafe wird es immer geben - und die fahren, wo sie wollen, Routen hin oder her."

Einen "Querulant" hat ihn unten im Tal einer wegen seiner unbequemen Positionen genannt. Eine Zuschreibung, über die sich Fritz regelrecht freut, überhaupt ist der Mann eine ansteckende Frohnatur. Und ein spannendes Beispiel dafür, dass man auch mit ganz klaren eigenen Interessen das übergeordnete Ganze sehen kann: Fritz ist nämlich nicht nur Hüttenwirt, sondern auch Jäger und Inhaber einer Skischule - tut sich mit seinen Sperrwünschen also zumindest finanziell keinen Gefallen. Sein Geschäft macht der Hüttenwirt trotzdem mit den Gästen auf seiner Hütte, und er schämt sich auch nicht, das zuzugeben: "Geld verdienen ist okay. Aber doch nicht um jeden Preis."

Das klingt bei Fritz und anderen im Kleinwalsertal nicht nur nach einer hohlen Phrase. Und selbst wenn hinter den Bemühungen mancher Hoteliers, Bergbauern, Wirte und Jäger am Ende nicht die Liebe zur Natur, sondern Eigennutz die Motivation sein sollte, sich für das Tal einzusetzen: Am Ende zählt das Ergebnis, findet Tourismusmanager Ipsen. "Wir müssen versuchen, das Gleichgewicht zu schaffen zwischen Naturnutzung und Naturerhalt, das ist ja auch die Basis für den Tourismus. Es ist eine Haltung, die sich nach draußen entwickeln kann, das braucht Zeit." Und die muss man sich nehmen - zum Beispiel für einen Haufen loser Steine auf einer steilen Bergwiese.

Quelle: ntv.de

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