In Vino Verena Wie Influencer die Gesellschaft vergiften
10.10.2020, 10:06 Uhr
Viele Influencer definieren den Wert eines Menschen über die Anzahl der Follower.
(Foto: imago)
Tragen TV-Kritiker eine Mitschuld, wenn sie über mobbende Influencer berichten, die sich zunehmend über ihre Follower-Zahl definieren? Unsere Kolumnistin mit einem düsteren Ausblick in eine Scheinwelt, in der Likes als Synonym für den Sinn des Lebens stehen.
"Leute, wie du, die über diese vermeintlichen Stars berichten, machen sich mitschuldig daran, dass diese Influencer überhaupt erst berühmt werden." Und weiter: "Ihr - die Medien - leistet der Dummheit Vorschub, (…) indem Ihr über diese Egomanen berichtet und sie dadurch glauben lasst, sie seien prominent. (…) Wenn du wirklich Stärke beweisen willst, dann unterstütze diesen Scheiß nicht, indem du weiter Trash-TV-Kritiken schreibst."
Seit ein paar Wochen läuft ja wieder das "Sommerhaus" und ich berichte drüber. Auch in der zuletzt erschienenen Episode meines Podcasts "Ditt & Datt & Dittrich" plaudern der Hausmeister Ronny Rüsch aus der Eichhörnchenstraße und meine Wenigkeit über die Irrungen und Wirrungen im Chalet des Grauens. Die Folge trägt den Titel: "Wer keine Follower hat, ist ein Niemand". Seitdem haben mir viele Leser und Zuhörer geschrieben. Darunter einige, die der Meinung sind, ich würde dazu beitragen, "die Gesellschaft zu zerstören". Und weil eines hoffentlich fernen Tages auf meinem Grabstein nicht stehen soll: "Hier ruht eine Gesellschaftszerstörerin", habe ich lange darüber nachgedacht, ob an der Kritik nicht vielleicht doch ein Funken Wahrheit ist.
Seit vielen Jahren, genau genommen seit sieben, schreibe ich für ntv.de über die deutsche Trash-TV-Landschaft. Natürlich nicht über alle Formate, Herr im Himmel, ich muss ja auch mal abwaschen und das Katzenklo säubern. Und bei den sogenannten Bumsformaten habe selbst ich, als Trash-affine Person, bald schon nicht mehr durchgesehen. Wenn ich ehrlich bin, bereiten mir die einst so launig-ironischen Kritiken über illustre Fernseh-Formate schon ab und an Bauchschmerzen. Denn immer mehr unterhalten uns nicht Stars, die leider das Pech hatten, nicht mehr auf der Sonnenseite des Lebens zu stehen, und deshalb in diese Shows gehen, sondern sogenannte Influencer, Leute, die eine große Instagram-Reichweite haben und deshalb natürlich auch für TV-Macher interessant sind.
Mobbing wird salonfähig gemacht
Diese Entwicklung, die in der letzten Zeit immer mehr an Fahrt aufzunehmen scheint, sie gruselt mich ungemein. Ich finde sie geradezu erschreckend. Tatsächlich scheint Teilen des Unterhaltungs- und des Werbe-Business' der moralische Kompass abhandengekommen zu sein. Vielleicht bilde ich mir die Sache mit der Moral aber auch nur ein und es hat sie ohnehin nie gegeben. Doch ich wage zu behaupten, dass es noch nie so verroht und so geistig arm wie in der jüngsten deutschen Trash-TV-Geschichte gewesen ist. Mobbing, das bekämpft gehört, wird salonfähig. Wir schauen Menschen dabei zu, die eine Person, die sie "schon mal im Fernsehen gesehen haben", vollkommen fertigmachen und anschließend behaupten, alles sei doch ganz anders gewesen. Man habe unendlich viel Spaß in dem Format gehabt, aber leider seien die lieblichen Szenen einem sensationell guten Schnitt zum Opfer gefallen.
Als Zuschauer sieht man, wie ach so coole Influencer sich über die Reichweite ihrer Konkurrenten lustig machen. Wer 50.000 Follower hat, sei quasi ein Nichts und habe im Leben auch "nichts erreicht". Leute, die kaum einen Satz fehlerfrei schreiben können (und ich möchte hier weder Legastheniker noch Analphabeten angreifen), erheben sich in einer Art und Weise über ihre Mitmenschen, dass es meiner Meinung nach in der Verantwortung der Produzenten liegen muss, ob und wie die gemeinsame Reise weitergeht.
Likes als Synonym für den Sinn des Lebens
Es gibt so viele ehrliche, hart arbeitende Menschen in unserer Gesellschaft. Mir schreiben Leserinnen, die im Supermarkt an der Kasse sitzen und einst gern Trash-TV geschaut haben, DachdeckerInnen, BäckerInnen, PflegerInnen. Viele eint dasselbe Missbehagen: Was sehen wir da nur für selbstgefällige, im Inneren hässliche Menschen? Ihre eigene Reichweite ist ihnen zu Kopf gestiegen, sie definieren sich hauptsächlich durch Klicks und Page-Impressions und wähnen sich "als ganz oben angekommen". In ihren Instagram-Storys berichten sie von ihrem unsäglich langweiligen Alltag, während ihnen die Kamera bis in den Hintern krabbelt, um ihren Followern ihre dussligen Waschlappen für untenrum oder sonstigen Tinnef anzudrehen. Statt ein Buch zu lesen, denken sie lautstark über die neuesten Filter nach oder darüber, dass Mädchen mit schmalen Lippen "nicht dem Schönheitsideal" entsprechen.
In dem Format "Promis unter Palmen" wirkte zum Beispiel ein Muskelprotz mit, der sich selbst "Leader" nannte und Pick-Up-Artist-Schulungen für Männer gab, um Frauen erfolgreich in all ihre "Löcher zu f*****". Später kam heraus, dass er auch noch ein Tierquäler war. Natürlich gibt es auch immer wieder tolle, sympathische Influencer, die an Reality-Formaten teilnehmen. Wäre ja schlimm, wenn nicht! Letztlich aber geht die Beobachtung dahin, dass sich viele von ihnen ausschließlich über ihre Followerzahl definieren. Ohne es zu merken, reduzieren sie ihren Wert als Mensch nur noch über die Betrachtung der anderen, der User, der Klicker, der Liker. Nicht selten hat man in den einschlägigen TV-Sendungen Kandidaten orakeln gehört, ob sie inzwischen wohl die 300K erreicht haben. Als Negativbeispiel möchte ich in diesem Zusammenhang die erste Folge der dritten Staffel der britischen TV-Serie "Black Mirror" nicht unerwähnt lassen. Die Episode hat den Titel "Abgestürzt" und ist ein düsterer Ausblick auf die Welt, die uns erwartet. Eine Welt, in der ein Like als Synonym für den Sinn des Lebens steht.
Größe misst man nicht an der Follower-Zahl
Ich werde weiter auch Trash-TV-Kritiken schreiben. Vielleicht werden meine Finger nicht mehr so leicht über die Tastatur tanzen wie noch vor einiger Zeit, aber ich werde nicht aufhören, sie in die Wunde zu legen, wenn Ignoranz, Respektlosigkeit, Dummheit und Mobbing ungefiltert über die Mattscheibe flimmern. Die Entwicklung der Reality-Formate zu ignorieren, ist, wie ich finde, nicht der richtige Weg. Für mich ist das ein bisschen mit einem Leck im Schiffsrumpf vergleichbar. Das kann man nicht einfach ausblenden, in der Hoffnung, dass es nicht größer wird oder sich von selbst wieder schließt. Natürlich weiß auch ich, dass es um Quote, um Werbeeinnahmen und letztlich immer ums Geld geht.
Einige Leser schrieben mir, sie würden sich wünschen, meine Zeilen würden mehr Leute in den verantwortlichen Positionen lesen. Das wünschte ich auch. Kein Mensch ist fehlerfrei. Aber als Gesellschaft haben wir es auch ein Stück weit in der Hand, wie wir sein wollen. Statt zu ignorieren, wenn Menschen andere unter dem Deckmantel der Unterhaltung niedermachen und buchstäblich wie Müll behandeln, sollten wir ihnen ganz klar die Grenze ihrer verbalen Entgleisungen aufzeigen. Damit sie in ihrer verblendeten Ego-Insta-Welt vielleicht irgendwann begreifen, dass sich menschliche Größe nicht über die Anzahl der Follower definieren lässt.
Quelle: ntv.de