"Ann Sophie, du schaffst den ESC!" Im Schatten der Wurst
18.05.2015, 14:26 Uhr
Sie lacht die Zweifel einfach weg: Ann Sophie in Wien.
(Foto: dpa)
Der Eurovision Song Contest ist eröffnet. Die Teilnehmer aus 40 Ländern, darunter die Deutsche Ann Sophie, genießen für knapp eine Woche ihre 15 Minuten Ruhm. Doch das Blitzlichtgewitter dominiert eine Wolke. Und die hat die Form einer Wurst.
Nein, das mit den Ampelpärchen finden manche Konservative in Österreich echt nicht lustig. Trotzdem weisen an einigen zentralen Verkehrsknotenpunkten in Wien seit Neuestem schwule und lesbische Ampelmännchen - und Ampelfrauchen - den Fußgängern den Weg. Schließlich erhofft sich die rot-grüne Stadtregierung davon ein Signal für "Weltoffenheit und Toleranz".
Immerhin: Farblich hat sich nichts geändert. Ob Gehen oder Stehen angesagt ist, bedeuten einem auch die homosexuellen Figuren ganz altbacken in rot und grün. Dennoch schillert das altehrwürdige Wien in diesen Tagen geradezu in Regenbogenfarben - und kommt dabei aus dem Feiern gar nicht mehr heraus.
Noch am Samstag grassierte in der Stadt und ihren Clubs das "Life Ball"-Fieber. Auf Europas größte Benefiz-Veranstaltung für den Kampf gegen AIDS folgte am Sonntag sogleich die offizielle Eröffnungsfeier des Eurovision Song Contests. Und bis zum großen Finale am Samstagabend bleibt Wien eine einzige ESC-Partymeile. "Building Bridges" lautet dabei das Motto in diesem Jahr. Brücken zwischen Ländern und Nationen, Kultur und Kulturen, Ost und West, Homosexuellen und Heteros.
Monarchie 2.0
Über allem scheint der Geist von Conchita Wurst zu schweben. Die ESC-Vorjahressiegerin thront auf unzähligen Plakaten in der Stadt, lächelt von den Magazin-Covern an den Zeitungsständen und spricht sogar Durchsagen in der U-Bahn.
God save the (Drag) Queen. Fast so, als wäre die einstige K.u.k.-Monarchie heilfroh, endlich mal wieder ein standesgemäßes Oberhaupt zu haben. Bis auf manche konservative Ampelpärchen-Gegner, versteht sich. Ihnen dürfte der Hype um die Frau mit Bart nach wie vor gehörig gegen den Strich gehen.
Wie eine Statue
Vielleicht aber verflucht auch der eine oder andere diesjährige Teilnehmer des Song Contests inzwischen insgeheim die Wurst. Als die Delegationen der 40 ESC-Länder bei der Eröffnungsfeier fahneschwenkend über den roten Teppich vor dem Wiener Rathaus flanierten, stahl Conchita ihnen jedenfalls die Show.
Ein Orchester des Wiener Konservatoriums intonierte eine Handvoll ESC-Gassenhauer - darunter "Waterloo", "Ein bisschen Frieden" und natürlich "Rise Like A Phoenix" - in einer nervtötenden Dauerschleife. Auf der Empore vor dem Rathaus posierte dazu wie eine Statue eine Plastik-Conchita im Abendkleid. Richtig wuschig wurden den Tausenden Zaungäste allerdings erst, als sie einen Blick auf die lebensechte Dame mit Bart und neuer Kurzhaarfrisur erhaschen konnten. Da setzten dann nahezu alle - vom Teenie bis zum grau melierten Bierbauch-Träger - zu hysterischen "Conchita"-Rufen an.
15 Minuten Ruhm - der Slogan ist wie für die Teilnehmer des ESC gemacht. Denn egal, welche Künstler sich hier präsentieren - schon nach dem Finale am Sonntag kennt sie zumindest außerhalb ihrer insgesamt 40 Heimatländer niemand mehr. Außer sie gewinnen den Contest. Doch selbst dann bringt es kaum einer zu "Conchita Superstar". Der Schatten, den die neue Österreich-Ikone wirft, ist lang und für ihre Epigonen ungemütlich.
Unsere "Miss Universe"
Für Deutschlands ESC-Hoffnung Ann Sophie ist das - wie für ihre 39 Mitbewerber - natürlich kein Grund, nicht trotzdem über das gesamte Gesicht zu strahlen. Noch vor der Eröffnungsparty absolvierte sie ihre erste Probe in der Wiener Stadthalle. Anschließend stellte sie sich erstmals in einer Pressekonferenz den Journalisten. So locker, abgeklärt und schlagkräftig, als wäre sie ein Vollprofi. Selbst als ein Kollege ihr "Miss Universe"-Qualitäten attestiert, ist von Schamesröte keine Spur.
Als sie später den roten Teppich entert, trällert sie erst einmal ausgelassen ihr "Black Smoke" in die Kameras. Das Zahnpasta-Lächeln weicht ihr auch dann nicht aus dem Gesicht, als ihr der gefühlt 500. Reporter das Mikro für ein paar Wortfetzen unter die Nase hält. "Ann Sophie, du schaffst das", ruft ihr ein deutscher Fan unter all den Conchita-Maniacs zu - allen Skeptikern, die der Deutschen nur geringe Siegchancen einräumen, zum Trotz.
Klimbim und Punk
Ann Sophie sei doch für den ganzen Song-Contest-Klimbim viel besser geeignet als er, befand Andreas Kümmert, als er seinen Verzicht auf die ESC-Teilnahme verkündete. Und tatsächlich scheint die Sängerin in Wien den Beweis dazu antreten zu wollen.
Dicht hinter der deutschen Delegation auf dem roten Teppich folgt unterdessen die Abordnung aus Finnland mit der Gruppe Pertti Kurikan Nimipäivät. Die vier Mitglieder der Altpunk-Gruppe sind geistig behindert. Während Ann Sophie weiterhin im kleinen Schwarzen brilliert, ziehen sie mit ihren Kutten im Hintergrund Grimassen.
Doch auch Pertti Kurikan Nimipäivät sind im Jahr 2015 für den ESC geeignet. Nicht erst seit Conchita Wurst ist aus dem einstigen Schlager-"Grand Prix" eine musikalische Borderline-Revue geworden. Vielfältig, bunt, schrill, überraschend und skurril. Und die besten Chancen hat schon lange nicht mehr unbedingt der, der am angepasstesten ist. Ann Sophie scheint von den Finnen in ihrem Rücken derweil kaum Notiz zu nehmen. Sie spielt bis zum Ende des roten Teppichs mit den Kameras. Wie ein Vollprofi eben.
Quelle: ntv.de