Betreuen, Spenden, Abschließen Das Internat der Klone
22.11.2005, 09:00 UhrHailsham, ein typisch englisches Internat, Kinder in Schuluniformen, Schlaf- und Schulräume, Sportplätze. Kazuo Ishiguro entwirft ein Bild, das auf den ersten Blick dem Klischee perfekt entspricht, nur heißen die Lehrer hier Aufseher und von Eltern, selbst von fernen, ist überhaupt nicht die Rede.
Das fällt aber zunächst nicht weiter auf, weil Ishiguro sich erst einmal den normalen Nöten von Pubertierenden im Internat zuzuwenden scheint. Kathy ist mit Ruth befreundet und auf dem besten Wege, sich in Thommy zu verlieben, der aber schließlich Ruths Liebster wird. Die Mädchen und der Junge durchleben ihre gemeinsame Schulzeit und erleben immer wieder Irritationen. Da gibt es eine Lehrerin, die den Heranwachsenden versucht, etwas zu sagen, sich dann aber doch nicht zu einer eindeutigen Aussage entschließen kann.
Da ist immer wieder die Rede von einer künftigen Tätigkeit als Betreuer und von Spenden, die die Schülerinnen und Schüler über kurz oder lang geben werden. Erst nach und nach wird dem Leser klar, dass es sich bei den Internatsbewohnern um Klone handelt, die irgendwann ihre Organe spenden werden, um dann wenig älter als 30 "abzuschließen", also zu sterben. Bis dahin allerdings durchleben Kathy, Ruth und Thommy ein Erwachsenwerden, das immer in Zeichen des Abschieds steht.
Verstörende Wahrheit dahinter
Nur manchmal wird der zwangsläufige Weg scheinbar für einen Moment außer Kraft gesetzt, da gibt es eine Ahnung, man könnte seine "Klonvorlage" und damit eine Ahnung von einem wirklichen Leben gefunden haben. Da kursiert unter den Internatszöglingen die Geschichte, dass, wer wirklich liebt, vom Spenden verschont werden könnte.
Ishiguro beschreibt einerseits meisterhaft eine klassische Internatsgeschichte, schafft aber andererseits eine so verstörende weitere Ebene, dass einem schier der Atem zu stocken scheint, ob der Ungeheuerlichkeit der Möglichkeiten. Wer Ishiguros "Was vom Tage übrig blieb" schon liebte, wird "Alles, was wir geben mussten" fasziniert lesen und dabei nicht umhin kommen, sich mit den unterschwelligen moralischen Fragen auseinander zu setzen. Ein brillanter Roman über die Konsequenzen einiger Möglichkeiten, über die heute so zukunftsträchtig nachgedacht wird.
Quelle: ntv.de