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Einmal Bruder, immer Bruder Mit Joachim Lottman im "Hotel Sylvia"

Those were the days, my friends ...

Those were the days, my friends ...

Der Bruder. Tja, der ist halt so da, man nimmt ihn als gegeben hin und unter Umständen pflegt man ihn und den Kontakt nicht allzu sehr. Könnte er demnächst aber sterben, dann wäre das doch schlimm. Was also tun? Eine Reise in die Kindheit antreten?

Die liebe Familie - wir können nicht mit ihr und wir können nicht ohne sie. So geht es auch Joachim Lottmann oder besser seinem Alter Ego Wolfgang: "Am Anfang des Jahres bekam ich eine schriftliche Mitteilung, wonach er (der Bruder, Anm.d. Red.) mit seinem Elektrofahrrad gestürzt sei und im Krankenhaus liege. Ich hatte genau dieselbe Empfindung wie damals bei Mutter. Nämlich die Gewissheit, dass es aus sei." Diese Nachricht löst in Wolfgang etwas aus.  Auch wenn es nicht gerade so ist, dass er entgeistert ist oder vor Trauer vergeht. Er konnte weder seine kapriziöse Mutter besonders leiden noch diesen Bruder Manfred, der sich in vielen Dingen so sonderbar von ihm unterscheidet. Aber wenn die Eltern tot sind und die Kinder in der Rangfolge dann zwangsläufig aufrücken, und dann der Bruder, der in den ersten Lebensjahren alles ziemlich genau so erlebt haben dürfte wie man selbst, wenn man dann ganz alleine übrig sein könnte, mit all seinen Geschichten, Erinnerungen, Wünschen, unerfüllten Träumen, die man vielleicht sogar mit seinem Bruder als erstem Verbündeten besprochen hatte - dann kommt doch Panik auf. Dann wird einem klar, wie vergänglich alles und man selbst ist.

Der Autor, auf dem Foto noch lange entfernt vom Alterswerk (2004).

Der Autor, auf dem Foto noch lange entfernt vom Alterswerk (2004).

(Foto: imago stock&people)

So geht es auch Wolfgang. Jahrelang haben die Brüder keinen oder nur kläglichen Kontakt, doch nun spürt er, dass es "verdammt spät geworden war. Ich konnte ihn noch retten, wenn ich ihn aus seiner Isolation befreite." Isolation heißt in diesem Fall, aus den Fängen einer Gattin, die in Personalunion Krankenschwester ist und von der man befürchten darf, dass sie den Bruder konsequent zu Tode pflegen würde. Anmaßend klingt das irgendwie, und so klingt der Herr Schriftsteller Lottman ja eh gerne mal, aber irgendwie ist es ja auch verständlich, dass nun die Angst seine Romanfigur packt. Und was sollte man besseres tun, als an die Orte seiner Kindheit zurückzukehren? In Wolfgangs und Manfreds Fall ist das ein einziger Ort: Das "Hotel Sylvia" im beschaulichen Örtchen Grottamare an der Adria. Dort scheinen die Uhren stehen geblieben zu sein. Für Wolfgang ist dies der perfekte Ort, seinen Bruder ins Leben, auch in sein Leben, zurück zu holen. 

Der Hauch des Todes

Der Autor kann schreiben, soviel steht fest. Wir begleiten die Brüder, lassen die angeheiratete Pflegerin zurück, erinnern uns beim Lesen selbst an Urlaube in Italien, als die Macker noch richtige Macker sein durften, sich Olivenöl in die Haare schmierten, die Verkäufer am Strand "Bomboloni" und keine gefälschten Rolex-Uhren verkauften; wir erinnern uns an Mädchen, die Frotteehosen trugen und sonst nichts und die ihre Väter nicht bei der Polizei wegen sexueller Belästigung anzeigten, wenn diese ihnen den Rücken mit Delial-Sonnenlotion eincremten; wir erinnern uns an den kleinen Bruder, der uns in die soeben fertiggestellte Kleckerburg pinkelte. Das waren noch herrliche, unbeschwerte Zeiten. Mami trug abends rote Haare und einen engen lila Overall, Papi rauchte Kette und die Kinder wuschen sich im Bidet die Füße, im Hotel roch es nach Miracoli lange bevor es Miracoli in Deutschland gab, und der Rücken glühte trotz Delial gewaltig.

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All diese Dinge wünschen wir uns wohl herbei, wenn wir den Hauch des Todes spüren. Wolfgang will mit seinem Bruder zurück in diese Zeit, etwas verstehen, von sich, der Familie, dem Auseinanderdriften. Er will sich auch nicht eines Tages vorwerfen lassen, dass er kein guter Bruder war. Und ein bisschen will er auch sich selbst helfen. Wenn vieles scheitert im Leben, Ehen kaputt gehen, die Kinder fremd werden, der Job nicht mehr passt, die Hose sowieso nicht, dann sehnt der Mensch sich nach Verlässlichkeit, nach Bekanntem. Da Wolfgang aber Angst hat vor zu viel von allem, denkt er sich noch einen besonderen Clou aus, um die Zeit mit seinem Bruder in Grottamare auch wirklich gut zu überstehen: Er lädt eine weitere Person ein, Agnes. Agnes ist eine junge Westfälin, kräftig, hochgewachsen, großknochig, blond, angehende Künstlerin. Die soll Manfreds Trübsal vertreiben und auch Wolfgang will ein bisschen was zum Gucken haben, wenn er mit der Anita-Eckberg-Schönheit durchs Städtchen flaniert oder am Meer einen "Campari O" schlürfen würde.

Wie die zwei Brüder miteinander sein können, was wir über Familien erfahren, wo sich jeder von uns wiedererkennen kann - das bringt Lottmann in seinem dünnen Büchlein perfekt auf den Punkt. Ein bisschen desillusioniert vielleicht, aber: "Hotel Sylvia markiert den Beginn meines Alterswerk, auf das ich mich seit Ewigkeiten gefreut habe." Das ließ der 1954 Geborene über seinen gebeutelten Verlag Haffmanns & Tolkemitt ausrichten. Der Autor von "Endlich Kokain" und "Happy End", Meilensteine der sogenannten Pop-Literatur, begibt sich also auf die Zielgerade. Wenn er nur noch Familienromane schreibt, dann sollte er vielleicht aufpassen, dass nicht eines Tages das Vorabend-Programm der Öffentlich-Rechtlichen seine Novelle verfilmen möchte. Aber - so weit wird es so schnell nicht kommen, so alt ist Lottmann nun auch wieder nicht.

"Hotel Sylvia" von Joachim Lottmann, erschienen bei Haffmans & Tolkemitt, bei Amazon bestellen.

Quelle: ntv.de

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