Liv Strömquists "Im Spiegelsaal" Schönheit und die Tyrannei der Fotos
16.01.2022, 10:26 Uhr
Schon Kaiserin Sissi war dem Selbstoptimierungswahn verfallen und davon besessen, den Mythos ihrer Schönheit zu wahren.
(Foto: Liv Strömquist)
Warum sind so viele Menschen hingerissen von Kylie Jenner? Und was hat die Bilderflut des medialen Zeitalters mit unserem Begriff von Schönheit gemacht? Diesen Fragen geht Liv Strömquist in ihrem aktuellen Comic nach - und lässt dabei auch Königinnen zu Wort kommen.
Ein Sonnenuntergang ist für die meisten Menschen einfach nur schön und lädt zum vorbehaltlosen Staunen ein. Auch Kylie Jenner wird von vielen Menschen als schön empfunden. Allerdings sind die Emotionen beim Betrachten der posenden Instagram-Queen nicht nur so positiv wie beim Anblick des Farbspektakels am Abendhimmel. Bei - vor allem jungen - Frauen spielen oft auch Minderwertigkeitsgefühle, Frustration, Neid und Wut eine Rolle. Sie wollen auch so aussehen wie Kylie Jenner. Manch eine wünscht sich zur Selbstoptimierung eine neue Hautcreme, eine andere eine Schönheitsoperation.

Die Comics der schwedischen Zeichnerin und Feministin Liv Strömquist sind Kult.
(Foto: avant-verlag / Emil Malmborg)
Mit dieser Beobachtung startet Liv Strömquist ihre Graphic Novel "Im Spiegelsaal" (übersetzt von Katharina Erben) und geht der Frage nach, wie die heutige Bilderflut unseren Begriff von Schönheit verändert hat. Die Sachcomics der schwedischen Zeichnerin sind inzwischen so etwas wie Kult - auch bei Menschen, die sich nicht unbedingt als Comic-Fans bezeichnen würden. Strömquist geht ihre Themen feministisch an und räumt mit Tabus auf: In "Der Ursprung der Welt" erzählt sie die Kulturgeschichte der Vulva, "Der Ursprung der Liebe" handelt davon, wie Sex zur Ware wurde, und "I'm every Woman" rückt Frauen in den Mittelpunkt, die an der Seite ihrer Männer zu einem Schattendasein verdammt waren.
Jetzt also nimmt Strömquist gewohnt analytisch, liebevoll und mit einer Prise Witz die Schönheit ins Visier. Sie wählt dafür ganz unterschiedliche Perspektiven und baut ihre Argumentationen auf den Thesen bekannter Köpfe aus Philosophie, Soziologie und Historik auf.
So etwas wie das Herzstück des Buches bilden Interviews mit fünf Frauen zwischen 53 und 73 Jahren, die Strömquist als Königinnen mit Krone gezeichnet hat. Sie sprechen über einen Aspekt, ohne den Schönheit nicht denkbar ist, nämlich deren Vergänglichkeit und den Umgang damit. Auch das ruft der Comic nochmal in Erinnerung: Schönheit unterliegt dem Zufall, ist nicht frei verfügbar und man kann sie weder besitzen noch horten.
Das Begehren und die Caprihose
Eine Erklärung dafür, warum zum Beispiel Kylie Jenner für so viele Menschen ein Schönheitsideal ist, findet Strömquist bei René Girard und seiner These "Der Mensch begehrt, was andere Menschen begehren". Dem französischen Philosophen zufolge weiß der Mensch nicht, was er wirklich will, und sucht sich daher ein - oft prominentes - Vorbild. Strömquist erklärt den Mechanismus am Beispiel der Mode: Eigentlich finde ich Caprihosen total hässlich, dann tragen sie aber immer mehr Frauen - und plötzlich muss ich auch ganz dringend so eine Hose haben. Da spielt dann auch ganz schnell der Konkurrenzgedanke eine Rolle.
Der Comic taucht auch in das kulturgeschichtliche Konzept der Schönheit ein. Sogar in der Bibel wird Strömquist fündig, bei Jakob, der die schöne Rahel mehr liebte als Lea mit den triefenden Augen. Bei Eheschließungen stand lange Zeit das Bedürfnis an erster Stelle, eine aus wirtschaftlicher oder gesellschaftlicher Sicht gute Partie zu machen. Attraktivität wurde spätestens dann wichtig, als es bei der freien Liebe in den 60er-Jahren darum ging, für viele Partnerinnen oder Partner sexuell anziehend zu sein.
Heute sind hübsch aussehen und geliebt werden stärker miteinander verknüpft als jemals zuvor. Für die spätkapitalistische Gesellschaft stellt Strömquist fest: Auch wer nicht nach Liebe sucht, muss sexy sein, "weil 'Sexyness' sich von der Funktion emanzipiert hat, Partner*innen anzuziehen, sondern zu einem eigenen Wert geworden ist, der den eigenen Status signalisiert, oder, sozusagen, den Marktwert."
Selbstbespiegelung rund um die Uhr
Womit wir wieder beim Selbstoptimierungswahn wären. Dem war auch schon die für ihr fabelhaftes Aussehen bekannte Sissi erlegen. Die österreichische Kaiserin ließ ihre Haare jeden Tag drei Stunden kämmen und frisieren, für ihre Wespentaille hielt sie strenge Diät, machte Gymnastik und unternahm lange Wanderungen. Der Titel der Graphic Novel bezieht sich übrigens auf den Spiegelsaal in der Wiener Hofburg, wo Sissi lebte. Als die Kaiserin 32 Jahre alt war, weigerte sie sich, sich weiterhin porträtieren oder fotografieren zu lassen. Der Mythos ihrer Schönheit sollte bewahrt werden, niemand die Spuren ihres Älterwerdens sehen - die Tyrannei der Bilder schlug zu.
Heute ist eine Welt ohne Fotos nicht mehr denkbar. Alles wird per Bild kommuniziert, Plattformen wie Instagram funktionieren wie ein einziger großer Spiegelsaal, in dem Selbstbespiegelung rund um die Uhr stattfindet. Da darf natürlich ein bekanntes Zitat der US-amerikanischen Intellektuellen Susan Sontag nicht fehlen: "Das Fotografieren hat eine chronisch voyeuristische Beziehung zur Welt geschaffen".
Äußerlichkeiten sind wichtiger denn je, in der Selfie-Gesellschaft gilt es sich zu inszenieren. Filter und Bildbearbeitungsprogramme helfen, Fältchen, Poren und kleine Unebenheiten der Haut einfach wegzuretuschieren, das Ideal ist: glatt. Und je mehr Bilder "schöner" Frauen gemacht werden, desto stromlinienförmiger sehen sie aus, stellt Strömquist fest. Mit ihrer Graphic Novel hält die Schwedin der medialen Bilderflut und dem veränderten Schönheitskonzept klug und unterhaltsam den Spiegel vor.
Quelle: ntv.de