Nach Chester Benningtons Tod Mike Shinoda verarbeitet seine Trauer
16.06.2018, 12:46 Uhr
Die Gedanken an Chester Bennington (l.) verblassen: Mike Shinoda.
(Foto: Warner Music / Imago / Collage: n-tv.de)
Ein knappes Jahr ist es her, dass Linkin-Park-Sänger Chester Bennington den Freitod gewählt hat. Zwar waren seine Depressionen kein Geheimnis, doch sein Tod kam trotzdem überraschend. Benningtons Bandkollege Mike Shinoda vergrub sich danach in der Kunst: Ganz für sich alleine begann der 41-jährige Amerikaner in seinem Haus in Los Angeles zu malen, aber auch Songs zu schreiben und aufzunehmen.
Die ersten Ergebnisse veröffentlichte Shinoda im Januar in Form der EP "Post Traumatic". Denselben Titel trägt nun auch sein Solo-Album. Zwischen Rap, Rock, Pop und elektronischen Sounds changierend, rufen die Songs Erinnerungen an sein Projekt Fort Minor wach. Es sind aber natürlich vor allem die Texte, die es in sich haben. Schonungslos offen setzt sich Shinoda mit seinen Gefühlen, mit Trauer, Resignation und Wut auseinander. Im n-tv.de Interview verrät er, warum er das in aller Öffentlichkeit tut - und was sich in unserer Gesellschaft ändern muss.
n-tv.de: Herr Shinoda, Ihr neues Album trägt den Titel "Post Traumatic". Wie hat Ihnen die Musik geholfen, das Geschehene zu verarbeiten?
Mike Shinoda: Wissen Sie, so etwas wie im letzten Jahr habe ich noch nie zuvor erlebt. Es gab für mich daher keine Vorlage, keinen offensichtlichen Weg, wie ich damit umgehen sollte. Ich habe ein Buch darüber gelesen, habe viel im Internet gelesen, mit Freunden gesprochen und Mentoren um Rat gefragt. Während dieser ganzen Zeit schrieb ich aber auch Songs und nahm sie auf. Ich habe mich schon immer der Musik zugewandt, wenn ich schwierige Situationen zu bewältigen hatte.
Wie kehrt man überhaupt zum Alltag zurück, wenn so etwas passiert ist?
Ich habe einfach gemacht, was immer sich gerade richtig und gesund anfühlte. An manchen Tagen habe ich viel geschrieben, an anderen hing ich mit Freunden rum. Wieder andere Tage waren einfach nur furchtbar. Es ist aber besser geworden im Laufe der Zeit - so wie man es erwarten würde. Manchmal stellte ich plötzlich fest. "Oh, jetzt ist es soundso lange her, seit ich an Chester gedacht habe oder seit ich nicht wusste, wie es weitergehen soll." Meine ersten Songs waren noch sehr düster und autobiografisch, aber irgendwann wurden sie heller und ich öffnete mich auch anderen Themen. Ich bin sehr stolz auf das Album - nicht nur wegen der Texte, sondern auch auf das handwerkliche Können hinter den Songs. Ich mag die Sounds und Grooves wirklich gerne.
Sie haben fast alles alleine gemacht: Aufnahme, Produktion, ergänzende Visuals. Musste das sein?

Dachte er auch mal daran, alles hinzuschmeißen? Nicht wirklich.
(Foto: Frank Maddocks / Warner Music)
Ja, denn es ist eben ein sehr persönliches Album. Bei einer Handvoll Songs sind Kollaborateure zu hören - Leute, die ich gut kenne, die Chester kannten, mit denen wir zuvor schon gearbeitet haben. Ich wollte sicherstellen, dass die Leute, die ich ins Boot hole, zu dem Thema des Albums einen persönlichen Bezug haben.
Sie singen in den Songs offen über Ihre Gefühle. In dem Stück "Place To Start" sind sogar Beileidsbekundungen zu hören, die Freunde Ihnen auf die Mailbox gesprochen haben. Warum haben Sie sich entschieden, solche intimen Dinge öffentlich zu teilen?
Es fühlte sich an, als sei das nötig. Nach Chesters Tod schrieben immer wieder Leute: "Mike, du musst etwas sagen, wir müssen wissen, wie es dir geht." Das war nicht nur Neugierde. Die Leute haben wirklich getrauert. Wir fühlten uns alle etwas verloren, wir brauchten eine Art Orientierungshilfe. Und ich dachte, indem ich offen kommuniziere, schaffe ich vielleicht etwas, dass uns allen Halt gibt. Ich merke schon jetzt, dass das über die Linkin-Park-Fanbasis hinausgeht. Dass Leute, die vielleicht gar nicht das Gleiche durchgemacht haben wie ich, die aber andere Sorgen haben, darin irgendwie Trost finden und einen Bezug zu den Songs haben. Die Tatsache, dass ich diese Dinge in meinen Songs thematisiere, bringt andere Leute vielleicht dazu, selbst über ihre Gedanken und Gefühle zu sprechen.
Tun wir das zu wenig?
Wir brauchen nicht nur Dialog, sondern auch ein Bewusstsein für unsere eigene physische Gesundheit. Was ich innerhalb des letzten Jahres gelernt habe: Uns wird nicht beigebracht, wie wichtig es ist, dass wir uns unseres mentalen Zustands bewusst sind - dabei sollte das selbstverständlich sein. Wenn du morgens erwachst und dir der Rücken oder der Kopf wehtut, wenn sich in deinem Körper etwas falsch anfühlt oder du eine Erkältung hast, dann reagierst du ja auch. Aber aus irgendeinem Grund machen die Menschen das nicht, wenn es um ihre geistige Gesundheit geht. Sie powern einfach durch den Tag - als ob man es mit Willenskraft überwinden könnte. Wenn der Körper krank ist, gehst du zum Arzt und holst dir Medikamente. Wenn es um psychische Gesundheit geht, sollte es genauso sein.
Haben Sie mit Chester viel darüber gesprochen?
Klar, die ganze Zeit! In erster Linie als Freunde, aber auch im Hinblick auf unsere Arbeit. Wenn wir einen Song schrieben, sprachen wir immer darüber, worum es in dem Stück geht, was im Moment bei uns los ist und worüber wir so nachdenken. Oft schrieb ich Texte bewusst deshalb, weil ich wusste, dass er dazu einen Bezug haben würde. Und weil ich wusste, dass wir ähnliche Dinge erlebten.
In dem Stück "Crossing A Line" singen Sie davon, alles hinzuschmeißen. Haben Sie nach Chesters Tod wirklich mit diesem Gedanken gespielt?
Diese Zeile kann man unterschiedlich interpretieren und alle Variationen treffen irgendwie auf mich zu. Aber in erster Linie geht es um dieses Gefühl, wenn plötzlich alles zu schwer erscheint. Wenn man denkt, dass man es nicht schafft. Dann sagt man oft: "Ich haue ab." Oder: "Ich will niemanden sehen." Solche Gedanken kommen mir natürlich auch. Rückblickend glaube ich nicht, dass es ernst gemeint war, dass ich es je gemacht hätte. Aber dieses Gefühl, dass alles zu viel ist, kann überwältigend sein. Ich habe im Moment sowieso das Gefühl, dass wir alle überwältigt sind.
Wie meinen Sie das?
Wir sind überwältigt von den Dingen, die in der Welt passieren. Es reicht ja schon, wenn man sich seinen Twitter-Feed anguckt. Bei all dem Scheiß, der in der Welt los ist, hat man das Gefühl, dass man keine Kontrolle hat. Dass wir verdammt sind. Obendrauf kommt der persönliche Stress, den wir mit der Familie, im Job oder in der Schule haben. Ich habe einfach das Gefühl, dass es gerade schwierige Zeiten für junge Menschen sind. Man sieht das in den sozialen Medien, aber ich höre es auch in den Songs anderer Künstler. Im Metal und Alternative war es immer präsent, aber selbst Rap-Musik ist im Moment total emo. Diese Kids sind deprimiert! Das Gleiche im Pop. Man spürt den Stress, in manchen Fällen sogar die Verzweiflung. Das ist nicht gut.
Was tun?
In Amerika passiert ja gerade schon etwas. Viele junge Leute sagen: Wir haben eine Stimme und uns ist es nicht egal. Wir haben die Nase voll davon, wie alles läuft. Wir sind gestresst, uns hört keiner zu. Das muss sich ändern. Ich denke, dass all das zusammenhängt. Zwischen dem, was ich im letzten Jahr erlebt habe, und dem, was die Kids durchmachen, besteht kein großer Unterschied, was die Emotionen betrifft. Der Punkt ist: Dieses Gefühl, dass alles überwältigend ist, ist gerade ein übergreifender, kultureller Zustand - aber wenn wir alle aufpassen und weiter kommunizieren, glaube ich, dass wir etwas verändern können.
Mit Mike Shinoda sprach Nadine Wenzlick
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Mike Shinoda tritt am 29. August 2018 live in Köln auf
- Bei Suizidgefahr: Notruf 112
- Beratung in Krisensituationen: Telefonseelsorge (0800/111-0-111 oder 0800/111-0-222 oder 116-123, Anruf kostenfrei) oder Kinder- und Jugendtelefon (Tel.: 0800/111-0-333 oder 116-111; Mo-Sa von 14 bis 20 Uhr)
- Auf den Seiten der Deutschen Depressionshilfe sind Listen mit regionalen Krisendiensten und Kliniken zu finden, zudem Tipps für Betroffene und Angehörige.
- In der deutschen Depressionsliga engagieren sich Betroffene und Angehörige, um die Situation und die Versorgung Depressiver zu verbessern. Sie bieten Depressiven ein E-Mail-Beratung als Orientierungshilfe an.
- Eine Übersicht über Selbsthilfegruppen zur Depression bieten die örtlichen Kontaktstellen (KISS).
Quelle: ntv.de