Panorama

Radikalisiert und gewaltbereit Wie die Generation 50+ in die Verschwörungsfalle tappt

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(Foto: imago images/Cavan Images)

Verschwörungsmythen, Rechtspopulismus, Fake News: Laut zwei Expertinnen läuft die Generation 50+ Gefahr, sich in radikalen Filterblasen zu verlieren. Woran liegt das? Und wie kann dem Phänomen radikalisierter Seniorinnen und Senioren entgegengewirkt werden?

Dass Jugendliche sich im Netz radikalisieren, ist ein bekanntes und viel besprochenes Problem. Doch seit einigen Jahren lässt sich dieses Phänomen auch bei der Generation der über 50-Jährigen vermehrt beobachten. Ob Desinformationen, Verschwörungsideen oder rechtes Gedankengut: Ältere Menschen driften vermehrt in radikale Filterblasen ab. Das berichten die beiden Autorinnen Sarah Pohl und Mirijam Wiedemann im ntv.de-Interview.

Laut dem Verfassungsschutz Baden-Württemberg sind die meisten Angehörigen der sogenannten "Reichsbürger"-Bewegung zwischen 50 und 59 Jahre alt. Auch der Bayerische Verfassungsschutz kommt zu dem Schluss, dass "mehr als die Hälfte des Personenpotenzials 50 Jahre oder älter" ist. Und in einer Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung von 2021 heißt es, dass Menschen zwischen 31 und 60 und über 61 Jahre häufiger an Coronaverschwörungen glaubten als jüngere.

Gerade während der Pandemie habe die Radikalisierungsdynamik unter älteren Personen stark zugenommen, sagen Pohl und Wiedemann, deren gemeinsames Buch "Abgetaucht, radikalisiert, verloren?" am 10. März erscheint. Viele hätten sich infolge der sozialen Isolation in Chatgruppen und soziale Netzwerke zurückgezogen, um sich mit anderen auszutauschen und sich zu "informieren". Die Expertinnen setzen den Begriff hier ganz bewusst in Anführungszeichen, da einschlägige Corona-Kanäle häufig eher von Desinformationen beherrscht wurden. Das schrittweise und oft unbemerkte Abrutschen in die "Verschwörungsschiene" sei da bei vielen quasi vorprogrammiert gewesen.

Betrifft uns alle - "nicht nur ein paar Spinner"

Allerdings entstünden die radikalen Bubbles nicht nur im Internet, sondern auch in der analogen Welt - im einfachen Alltag der Menschen, "indem sie sich nur noch mit Personen umgeben, die ähnliche Meinungen vertreten wie sie selbst", erklärt Pohl. So würden sie schleichend immer mehr den Kontakt zu anderen Sichtweisen verlieren, "und keine Kritik mehr von außen bekommen, weil sie sich Umfeld und Freizeit so gestaltet haben, dass sie praktisch nur noch in der eigenen Weltanschauung leben".

Hinter diesem Prozess stecke ein ganz natürlicher menschlicher Impuls, meint Pohl. "Menschen fühlen sich zu dem hingezogen, was ihnen ähnlich ist. Unser Gehirn mag es, sich bestätigt zu fühlen. Wir alle leben mehr oder weniger in Filterblasen, das betrifft nicht nur ein paar Spinner."

Gefährlich werde das Ganze, wenn aus Ansichten letztlich "gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit" wird; wenn die Debatten in den Blasen immer extremistischer und Menschen schließlich gewaltbereit werden. Laut dem baden-württembergischen Zentrum gegen Extremismus (Konex) neigen beispielsweise Menschen aus dem sogenannten "Reichsbürger"-Milieu auch im hohen Alter noch zur Gewaltbereitschaft. Dabei habe eine Stichprobe ergeben, "dass Reichsbürger, die [...] mit Gewalttaten auffällig geworden sind, gegenüber Nicht-Gewalttätern etwas stärker sozial isoliert" zu sein scheinen.

Trotz Problemen den Kontakt halten

Gerade weil soziale Abgeschnittenheit ein Radikalisierungsbeschleuniger ist, raten Wiedemann und Pohl dazu, den Kontakt zu Freunden, Bekannten oder Verwandten nicht abzubrechen, sollte man bei ihnen eine solche Entwicklung beobachten. Durch die Ablehnung und den eigenen Rückzug würde der "Filterblasenprozess" bloß zusätzlich verstärkt.

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Man könne versuchen, weiterhin gemeinsam "neutrale Aktivitäten" zu unternehmen, bei denen potenzielle Konfliktthemen ausgeklammert werden. Sollten Verwandte in Familienchats immer wieder mit problematischen Posts oder Links auffallen, biete sich an, einfach mit positiven, nicht-politischen Inhalten dagegenzuhalten, wie zum Beispiel Tiervideos oder Natur-Dokumentationen. So würde einerseits der Chat nicht nur von populistischen Meinungen dominiert; und andererseits würde durch das Anklicken der Videos der Algorithmus auf den Geräten der betreffenden Personen in eine etwas andere Richtung gelenkt.

Menschen davon zu überzeugen, dass sie Falschmeldungen oder Verschwörungsmythen anheimgefallen sind, sich "kaputt zu diskutieren" oder jemanden aus der Filterblase "herauszuziehen", funktioniere in der Regel nicht.

Esoterik als finanzielle Falle

Um zu verstehen, warum die Babyboomer-Generation in bestimmten Verschwörungsmilieus besonders stark vertreten ist, müsse man sich ihre Bedürfnisse und Lebensrealitäten genauer anschauen. Während Jugendliche vor allem über Identitätsfragen und eigene Zielsetzungen im Leben angesprochen werden, geht es bei älteren Menschen meist um Gesundheitsthemen, gesellschaftliche Teilhabe oder die Angst um ihre (Enkel-)Kinder.

"Impfungen, Ernährung, Gesundheit, Kinder - all das sind Themen, mit denen sich Jugendliche weniger beschäftigen als Ü-50-Jährige", so Wiedemann. Das erkläre unter anderem auch, warum die Generation 50+ in der Coronaleugner-Szene so stark vertreten war. In der rechtsextremen QAnon-Bewegung aus den USA kursierten hingegen Verschwörungsideen über gefangen gehaltene oder gefolterte Kinder. "Das dockt gerade bei Personen an, die schon Kinder haben, und die über dieses Mitleid stark emotionalisiert werden können".

Doch auch alternative Heilmethoden und Esoterik stünden bei Älteren hoch im Kurs. Diese würden einerseits die Gefahr bergen, einen Zugang zu konspirativem Gedankengut zu bieten. Andererseits können sie Menschen auch in die finanzielle Falle locken. "Es gibt Leute, die sich verschulden, weil sie bestimmte Produkte kaufen", die die Heilung bestimmter Leiden versprechen, so Wiedemann.

Nicht den Sündenbock suchen

Die wichtigste Präventivmaßnahme, um Menschen überhaupt am Abdriften in extreme Bubbles zu hindern, sei stärkere Medienkompetenz. Gerade im Gegensatz zu Jüngeren zeige sich, dass Menschen ab 50 viel größere Schwierigkeiten haben, Fake News und KI-Manipulationen als solche zu erkennen. Diese Beobachtung machte auch das US-Wissenschaftsmagazin "Science". Laut einem Bericht von letztem Jahr sind sogenannte "Supersharer" von Falschmeldungen und Desinformationen in den USA durchschnittlich 58 Jahre alt.

"Wir brauchen dringend mehr Ressourcen, um Menschen jenseits der 50 besser zu schulen und ihnen zu zeigen, wie KI funktioniert, wie Bilder manipuliert werden können und wie man Fakes erkennt", appelliert Pohl. Außerdem sei es wichtig, Seniorinnen und Senioren nicht als "Sündenböcke" darzustellen, sondern vielmehr ihre Bedürfnisse zu erkennen. "Wir müssen diese Generation besser verstehen, um herauszufinden, wo man bei ihr besser nachschärfen kann."

Quelle: ntv.de

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