Hanau-Attentat, Wahlkampf, Hass "Habe trotzdem nie gedacht: Alle Deutschen sind Rassisten"


Serpil Unvar, die ihren Sohn Ferhat Unvar bei dem Attentat von Hanau verlor, sprach Anfang des Monats auf einer Demo gegen rechts.
(Foto: IMAGO/Hami Roshan)
Nach dem Attentat von Hanau am 19. Februar 2020 sagt die Politik Rechtsextremismus und Rassismus den Kampf an. Fünf Jahre später sei kaum etwas passiert und der Tatendrang verpufft, mahnt die Mutter eines der Opfer. Mit Blick auf den laufenden Wahlkampf passiere gerade sogar eher das Gegenteil.
"Jedes Jahr im Februar denke ich, zu dieser Zeit war Ferhat noch am Leben." Für Serpil Unvar hat der zweite Monat im Jahr große Bedeutung - und ist zugleich "unglaublich schmerzvoll". Er ist wie eine gedankliche Sanduhr, hält ihr die letzten Wochen, Tage und schließlich Stunden ihres Sohnes vor Augen. "Und dann, am 19. Februar, denke ich: Jetzt bist du weg."
Fünfmal ist diese Sanduhr bereits abgelaufen. Fünfmal durchlebte Serpil Unvar den Abschied ihres Sohnes erneut. Vor fünf Jahren ermordete ein 43-jähriger Deutscher Ferhat Unvar, Gökhan Gültekin, Sedat Gürbüz, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Hamza Kurtović, Vili Viorel Păun, Fatih Saraçoğlu und Kaloyan Velkov.
Anschließend brachte er erst seine Mutter, dann sich selbst um. Die neun jungen Menschen kannte der Täter nicht. Er richtete die Waffe am Abend des 19. Februar 2020 an belebten Orten in Hanau auf sie, weil er anhand ihres Aussehens auf einen Migrationshintergrund schloss. Ferhat Unvar und acht weitere Menschen wurden aus tiefem Hass und Rassismus getötet.
Rechtsextreme Gewalt auf Rekordhoch
Mit der Nachricht über das Attentat zog damals erst der Schock, anschließend flammender Tatendrang durch die Gesellschaft. Rassismus und Rechtsextremismus wurde lautstark der Kampf angesagt - auch und vor allem vonseiten der Politik. Der damalige Innenminister Horst Seehofer nannte Rechtsextremismus, Antisemitismus und Rassismus die "derzeit größte Bedrohung für Deutschland". "Dieser Anschlag kam nicht aus dem Nichts", sagte auch Nancy Faeser in Gedenken an die Opfer von Hanau. Bereits kurz nach der Übernahme des Bundesinnenministeriums stellte sie einen Zehn-Punkte-Plan vor, mit dem rechtsextreme Strukturen eingedämmt werden sollten. Dazu zählte etwa das Vorgehen gegen Hass im Internet, die Entwaffnung von Rechtsextremisten und die bessere Unterstützung von Betroffenen rechter Gewalt.
Die Bilanz dieser Ankündigungen und Pläne falle fünf Jahre nach dem Attentat allerdings mehr als ernüchternd aus, sagt Serpil Unvar im Gespräch mit ntv.de. Tatsächlich ist die Gefahr durch rechte Gewalt in den vergangenen Jahren nicht kleiner geworden. Im Gegenteil: 2024 stieg die Zahl rechtsextremer Straftaten vorläufigen Zahlen zufolge mit 41.406 Delikten auf ein neues Rekordhoch. Ebenfalls einen Höchststand erreichten die Gewalttaten unter den Delikten. Dies geht aus einer aktuellen Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der Linken-Abgeordneten Petra Pau hervor, aus der die "taz" zitiert. Dass Rechtsextremismus nach wie vor die größte Gefahr für Demokratie und Menschen in Deutschland ist, stellte zudem der jüngste Verfassungsschutzbericht aus dem vergangenen Jahr klar.
"Ich empfinde viele Äußerungen als Schuldzuweisung"
Im November 2020, am Geburtstag ihres verstorbenen Sohnes, gründete Serpil Unvar die Bildungsinitiative Ferhat Unvar. Seitdem beschäftigt sie sich beinahe täglich mit Rassismus- und Diskriminierungserfahrungen vor allem junger Menschen in Deutschland. Unvar vermisst ähnlich ernste und konsequente Anstrengungen aus der Politik. Sicherlich gebe es vereinzelt Politikerinnen und Politiker, die sich gegen Rassismus und Rechtsextremismus engagieren. "Im Gesamtblick wirkt es jedoch eher, als sei Hanau vergessen, als wollte man nicht mehr über dieses Thema, vor allem über Konsequenzen, reden", sagt Unvar und fügt hinzu: "Im Grunde passiert gerade sogar das Gegenteil."
Unvar spielt auf den laufenden Wahlkampf an, in dem das Thema Migration eine zentrale Rolle spielt. Nach dem Attentat von Aschaffenburg verliefen die Debatten hitzig - vor allem Union, FDP und AfD pochen auf ein striktes Asyl- und Migrationsrechts. Expertinnen und Experten warnen dabei vor dem derzeitigen Fokus auf Migration in Verbindung mit Kriminalität sowie der rhetorischen Annäherung an die AfD. Im Ergebnis würden Vorverurteilungen und Pauschalisierungen befeuert, was das Risiko für rassistische Gewalt deutlich erhöhe.
"Ich empfinde viele Äußerungen vonseiten der Politik derzeit als Pauschalisierung und Schuldzuweisung", sagt Unvar. So entstehe durch die ständigen Wiederholungen, die Debatten über Migration und Kriminalität ein gefährliches Bild in den Köpfen der Menschen: "Alle Migranten sind kriminell. Sie sind es, die für die Probleme im Land sorgen." Sie bemerke, dass sich radikale Rechte durch die Politik unterstützt fühlen.
"Spaltung und Hass"
Man müsse es so deutlich sagen, meint Unvar: "Die schrecklichen Taten von Aschaffenburg und aus anderen Städten werden genutzt, um Hass zu säen und Spaltung zu verursachen." Das sei nicht nur grundfalsch und gefährlich, sondern auch "in keiner Hinsicht" zu verstehen. "Ich habe meinen Sohn durch ein rassistisches Attentat verloren und habe nun seit fünf Jahren beruflich mit Rassismus und Diskriminierung zu tun. Und ich habe trotzdem noch nie auch nur in einem Moment gedacht oder den Eindruck gehabt: Alle Deutschen sind Rassisten." Im Gegenteil: Die Demokratie, die bunte und friedliche Gesellschaft "müssen gegen jede Art von menschenfeindlicher Ideologie verteidigt" werden.
"Tun wir das nicht", so Unvar, "wird die Spaltung der Gesellschaft weitergehen." Das schade nicht nur Migrantinnen und Migranten. "Wir wissen aus der Geschichte, was passieren kann, wenn die Ausgrenzung einer Gruppe, die Spaltung der Menschen im Land in verschiedene Teile, immer weiter geht", sagt sie. "Das ist am Ende nicht nur für die Minderheiten gefährlich, sondern für die Demokratie und damit die gesamte Gesellschaft."
Es liege nun an den Menschen, mit ihrer Teilnahme an der anstehenden Bundestagswahl mehr Spaltung zu verhindern. Angst vor dem Ergebnis und dem, was darauf folgen könnte, hat Unvar jedoch nicht. "Ja, die Gefahr von mehr Rassismus, mehr Spaltung, mehr Diskriminierung ist da, das stimmt", räumt sie ein. "Aber am Ende sind wir, die für Menschlichkeit, Demokratie und eine offene Gesellschaft stehen, trotzdem viel mehr."
"Betroffene weitgehend hilflos"
Unvar zieht ihre Kraft vor allem aus der Tätigkeit in der Bildungsinitiative. Gerade dadurch werde ihr deutlich, wie viele vor allem junge Menschen sich gegen Rassismus einsetzen - "das fängt schon in der Grundschule an". Die vielen Anfragen, die vielen Zuschriften und der Zuspruch zeigen ihr, so Unvar, "dass der Wille in der Zivilgesellschaft zum Kampf gegen Rassismus da ist". Allerdings brauche es Unterstützung - ein offenes Ohr in der Politik und Förderung. "Daran mangelt es." Der politische Tatendrang sei weitgehend verpufft. Von den angekündigten Maßnahmen sei nur wenig umgesetzt worden.
Tatsächlich konnte die einstige Ampel ihren Aktionsplan gegen rechts nur bedingt umsetzen. Während es durchaus Erfolge wie Verbotsverfahren gegen rechtsextreme Netzwerke gab, hapert es an anderen Stellen wie der "konsequenten Entwaffnung von Rechtsextremisten" bis heute. Erst kürzlich nannte Faeser politische Bildung die "beste Prävention gegen Extremismus". Das von der damaligen Ampel bereits im Koalitionsvertrag verankerte Demokratiefördergesetz sollte genau dies fördern: Initiativen, die sich für die Stärkung demokratischer Werte und Prävention einsetzen. Verabschiedet wurde es allerdings nie.
Vor allem aber, sagt Unvar, fühlten sich Betroffene von Rassismus in vielen Fällen immer noch weitgehend hilflos. Der letzte Punkt in Faesers Plan "Opfer von Rechtsextremismus nicht allein lassen" habe nahezu keine Wirkung entfaltet. Unvar berichtet von ihrem eigenen Alltag. So werde sie etwa seit Jahren von dem Vater jenes Mannes belästigt, der 2020 ihren Sohn ermordete. Der 77-Jährige beleidige sie und andere Menschen in Hanau rassistisch, schreibe bedrohliche Briefe, schüchtere sie ein. Einmal stand er minutenlang mit seinem Schäferhund vor Unvars Küchenfenster, ein anderes Mal suchte er die Grundschule ihres kleinen Sohnes auf. "Er versucht, Teil unseres Lebens zu sein", sagt Unvar. "Mit diesem psychischen Terror leben wir seit Jahren."
"Warum müssen wir warten?"
Im vergangenen Herbst wurde der Vater des Hanau-Attentäters schließlich zu einer Geldstrafe verurteilt. Der Rentner sei "zweifelsohne rassistisch", attestierte die Richterin am Amtsgericht Hanau. Eine Haftstrafe sei jedoch nicht verhältnismäßig. Der Verurteilte werde mit seinen Taten vermutlich nicht aufhören, zitiert die "taz" aus der Urteilsbegründung. Allerdings ist dies laut Gericht "etwas, was die Gesellschaft ertragen muss".
Für Unvar ist das Urteil kaum abschreckend. Vielmehr stehe es für die Ohnmacht, die viele Betroffene spürten. "Die Angst ist zwar da, aber oft bringt es einfach nichts, zur Polizei zu gehen. Dann kann man es auch lassen." Denn: In vielen Fällen sind den Behörden die Hände gebunden, solange keine konkrete Gefahr für Leib und Leben besteht.
Unvar wünscht sich für die kommende Legislaturperiode mehr Anstrengungen bei der Prävention von Hassverbrechen. Denkbar seien härtere Strafgesetze und mehr Befugnisse für die Behörden, bevor aus Hass und Rassismus Gewalt wird. "Wenn den Behörden bisher die Hände gebunden sind, obwohl eine Gefahr vorliegt, warum werden dann nicht die Gesetze geändert? Warum müssen wir warten, bis Leute verletzt oder getötet werden?" Das, so Unvar, müsse für jede Art von Ideologie gelten.
Quelle: ntv.de