Radikalisierung per Tiktok So rekrutieren Islamisten junge Männer im Internet


Der Tiktok-Algorithmus begünstigt Radikalisierungsprozesse, sagt Extremismus-Experte Mathieu Coquelin im ntv.de-Interview.
(Foto: IMAGO/NurPhoto)
Kurz nach dem tödlichen Messerangriff in Villach stufen Ermittler den Attentäter als Islamisten ein. Der 23-jährige Syrer soll sich innerhalb weniger Monate im Internet radikalisiert haben. Was ist dran am Phänomen der Blitz-Radikalisierung?
Wenige Tage nach dem Auto-Anschlag in München schockiert ein Messerangriff Österreich. Am Samstag hatte ein 23-jähriger Syrer in Villach einen 14-Jährigen getötet und fünf weitere Menschen verletzt, einige von ihnen schwer. Was die Vorfälle gemeinsam haben: In beiden Fällen sprechen die Ermittler von islamistischen Motiven; beide Täter sollen sich im Internet radikalisiert haben.
Nach Angaben der Staatsanwaltschaft Klagenfurt habe dies im Falle des Attentäters von Villach nur drei Monate gedauert. Der 23-jährige Syrer habe zwar vor der Tat einen Treueschwur auf den Islamischen Staat aufgenommen, aber keinen direkten Kontakt zu dem Terrornetzwerk gesucht, sagte Sprecher Markus Kitz. Er habe offenbar erwartet, dass die Polizei die Aufnahme des IS-Schwurs nach dem Attentat veröffentlichen würde.
"Blitz-Radikalisierung" in wenigen Wochen?
Dass die Radikalisierung von Einzelpersonen teils mehrere Jahre, in einigen Fällen aber auch nur wenige Monate dauern kann, bestätigen Experten in der Fachzeitschrift "Psychologische Rundschau". Eine "Blitz-Radikalisierung", von der etwa das österreichische Nachrichtenjournal "Zib" spricht, sei allerdings ein "fast nie zu beobachtendes" Phänomen.
Als gesichert gelte hingegen, dass vor allem demografische Faktoren wie Alter, Geschlecht und sozioökonomischer Status eine übergeordnete Rolle spielen. Meist seien es junge Männer aus niedrigeren sozialen Schichten, die sich radikalisieren - "mit Ausnahme von linksterroristischen Vereinigungen, denen vermehrt Frauen und Personen aus höheren sozialen Schichten angehören". Terroristen würden in der Regel einen Prozess durchlaufen, der sie mehr und mehr zu extremen Mitteln treibt, "wobei nicht jede Radikalisierung zwingend in Terrorismus münden muss".
Auch der Psychologe Nils Böckler vom Darmstädter Institut für Psychologie und Bedrohungsmanagement geht davon aus, dass sich Menschen bereits vor solchen Taten sukzessive von der Welt abgewendet hätten. Grund dafür könnten unter anderem persönliche Krisen, aber auch Fluchterfahrungen oder der Start in eine unbekannte Kultur sein, erklärt er im "Deutschlandfunk Kultur".
Und genau da setzten radikale Ideologien an, indem sie die Welt in Gut und Böse teilen und der eigenen Gruppe "moralische Höherwertigkeit" zuschreiben. Zuletzt würden sie Gewalt als Lösungsweg anbieten. "Irgendwann heißt es dann: Der fromme Glaube allein recht nicht mehr, man muss gegen das Leid der Brüder und Schwestern, wie es in der Propaganda dargestellt wird, mit dem Schwert kämpfen", so Böckler. "Dann kann die Tat schnell zum Initiationsritus werden, in diesem Kreis der Märtyrer aufzugehen."
Radikalisierungstreiber Tiktok
Insbesondere Tiktok spiele bei Radikalisierungsprozessen eine wichtige Rolle, erklärt der Extremismus-Experte Mathieu Coquelin im Gespräch mit ntv.de. Durch den Aufbau und den Algorithmus der Video-Plattform könnten Themen "sehr schnell und sehr stark emotionalisiert" werden.
Eines dieser Themen sei etwa Ungerechtigkeit und wer dafür verantwortlich ist. Denn: In Radikalisierungsprozessen gehe es häufig um die Schuldfrage - um die Suche nach einem Sündenbock. "Und der wird dann über Emotionen zu einem Feindbild aufgebaut, das so hässlich und minderwertig skizziert wird, dass jede Form der Gewalt gegenüber dieser Zielgruppe als legitim erachtet wird."
Für diese "Ungerechtigkeitsnarrative" seien zwar bestimmte Menschengruppen empfänglicher, etwa weil sie selbst von Diskriminierung betroffen sind und die Erzählungen besser bei ihnen andocken können. Doch auch Userinnen und User, die keine Diskriminierungserfahrungen machen, können in extremistische Filterblasen abrutschen. "Durch gezielt gestreute Horrorszenarien und Desinformationen kann ihnen das Gefühl gegeben werden, dass auch sie von massiver Ungerechtigkeit bedroht sind."
Als weiteres wichtiges Thema nennt Coquelin außerdem den Krieg in Nahost. Die Bilder des zerbombten Gazastreifens seien in den sozialen Medien genutzt worden, um Menschen stark zu emotionalisieren und Feindbilder zu schärfen. "Ich bin überzeugt, dass nicht nur der Krieg selbst, sondern auch die Art und Weise, wie über ihn gesprochen wurde, als Katalysator für Radikalisierungsprozesse gewirkt hat."
Direkte Terror-Rekrutierung per Telegram
Im Hinblick auf Radikalisierungsprozesse sei die Videoplattform aber häufig nur der Ort des ersten Kontakts, über den Menschen Zugang zu gefährlichem Gedankengut bekommen. Der nächste Schritt: Telegram. Der Messengerdienst sei für viele extremistische Gruppierungen - von Islamisten bis zu Rechtsradikalen - ein weiteres zentrales Werkzeug, um Menschen zu erreichen. Über Chatgruppen und Direktnachrichten könnten gezielte Radikalisierungsversuche und direkte Rekrutierung stattfinden, oft mit dem Ziel, Einzelpersonen zu Anschlägen zu bewegen.
Das Perfide an diesen Terror-"Anleitungen", die über die einschlägigen Kanäle verschickt werden, sei, dass sie im Laufe der Jahre immer niedrigschwelliger geworden sind. "Lange Zeit musste Sprengstoff organisiert, mussten Ziele ausfindig gemacht und Absprachen getroffen werden." Doch mittlerweile seien die Hemmschwellen gesunken und die Handlungsoptionen für quasi jeden ganz einfach umzusetzen.
Zudem gebe es Handlungsimpulse, wie beispielsweise Waffenverbote umgangen und so alternative Anschlagsformen geschaffen werden können. Das stelle Gesellschaften vor immense Herausforderungen und sei nur durch gute und langfristig angelegte professionelle Präventionsarbeit abzufangen.
Wer sind die Akteure?
Auf Tiktok sind außerdem Akteure wie Muslim Interaktiv und Generation Islam aktiv. Sie treten laut Coquelin zwar selbst nicht als terroristische Organisationen auf und distanzieren sich von Gewalt. Sie würden jedoch eine Form der metapolitischen Einflussnahme aus islamistischer Perspektive ausüben, indem sie ideologische Narrative verbreiten, die zur Radikalisierung beitragen können - etwa durch Feindbildkonstruktionen und das Infragestellen von demokratischen Gesellschaftsmodellen.
Laut dem Verfassungsschutz weisen beide Gruppierungen eine ideologische Nähe zur islamistischen Organisation Hizb ut-Tahrir in Deutschland (HuT) auf. Muslim Interaktiv wird vom Verfassungsschutz außerdem als gesichert extremistisch eingestuft.
Das Gesicht der Vereinigung auf Tiktok heißt Joe Adade Boateng. In für die Plattform typischen Kurzvideos spricht er über den Islam als "Lösung" für alles und über das Kalifat als einen Ort, an dem es "keine Probleme mehr" gebe. Gekleidet ist er dabei häufig in T-Shirt und Jeans und sitzt vor einer unverfänglichen Kulisse.
Mit seinen Inhalten erreicht Boateng Zehntausende Menschen, insbesondere Jugendliche. Damit stehe er für eine neue Form des Islamismus, wie Eren Güvercin, Gründer der liberalen Alhambra-Gesellschaft im ntv.de-Interview erzählt. Sie sähen nicht aus "wie salafistische Prediger in arabischen Gewändern, die ein Stück weit aus der Zeit gefallen sind", so Güvercin. "Sondern sie bedienen sich der Hip-Hop-Jugendkultur, sie bedienen sich der Jugendsprache und stellen bestimmte Statussymbole zur Schau, die bei jungen Leuten sehr gut ankommen." So könnten junge Muslime laut dem Bremer Verfassungsschutz auf den ersten Blick nur schwer erkennen, dass es sich um islamistische Videos handele und würden dadurch an extremistische Inhalte herangeführt.
Stärkere Regulierung, mehr Bildung
Um gegen Radikalisierungsprozesse vorzugehen, plädiert Coquelin einerseits für eine stärkere Regulierung sozialer Medien und andererseits für mehr gezielte Bildungsinhalte zu sozialen Medien. Es müssten Räume geschaffen werden, in denen das, was im Internet stattfindet, besprochen und eingeordnet wird. Das kann zum Beispiel in der Schule, aber auch zu Hause passieren. Wichtig sei es, gerade Jugendliche dort zu treffen, wo sie stehen und ihre Probleme, Ängste und Sorgen ernstzunehmen. Dazu zählten auch Diskriminierungserfahrungen wie Sexismus, Rassismus oder Islam-Feindlichkeit.
Gerade viele muslimische Jugendliche hätten häufig das Gefühl, dass ihre Erfahrungen und Probleme nur von diesen "hochgradig problematischen Akteuren" erkannt und angesprochen werden. Um sie vor dem Abdriften in Radikalisierungsspiralen zu bewahren, müssten diese Problemlagen frühzeitig erkannt werden. "Gleichzeitig müssten demokratische Akteure dafür sensibilisiert werden, damit sie sie aktiv aufgreifen und adressieren können."
Außerdem mahnt Coquelin zu einer stärkeren Förderung von Medienkompetenz - bei Jung und Alt. Zwar werde häufig von älteren Menschen gesprochen, denen der richtige Umgang mit sozialen Netzwerken, KI und Co. beigebracht werden müsse. Doch auch bei Jugendlichen könne es "nicht schaden", hier nachzuschärfen.
Quelle: ntv.de