
Kinder in Südkorea: ein Anblick, der immer seltener wird, denn das Land unterbietet Jahr für Jahr seine niedrige Geburtenrate
(Foto: IMAGO/SOPA Images)
Die Geburtenzahl in Südkorea ist auf ein neues Rekordtief gesunken. Der Staat steckt Milliarden in Programme, die das ändern sollen - bisher ohne Erfolg. Das echte Problem hat das Land noch nicht angepackt.
"Kinder unerwünscht" steht an vielen Türen von Restaurants und Cafés in Südkorea. Im ganzen Land gibt es Kinderverbotszonen, über 400 haben Aktivistengruppen gezählt. Allein auf der beliebten südkoreanischen Ferieninsel Jeju existieren laut dem staatlichen Forschungsinstitut Jeju Research Institute knapp 80 solcher Zonen, die Familien nicht betreten dürfen. Laute, spielende Kinder sollen die gemütliche Urlaubsatmosphäre nicht stören.
Dass Kinder nicht erwünscht sind, diese Entwicklung steht sinnbildlich für Südkorea, dem Land mit der niedrigsten Geburtenrate der Welt. Kinder gehören immer weniger zum Leben dazu.
Die Geburtenziffer ist vergangenes Jahr weiter gefallen, auf das neue Rekordtief von 0,72. 2022 lag sie noch bei 0,78 - das ist die durchschnittliche Kinderzahl, die Frauen im Laufe ihres Lebens bekommen. Vergangenes Jahr wurden 230.000 Babys geboren, 19.200 weniger als im Jahr davor, ein Rückgang von 7,7 Prozent, so die Nationale Statistikbehörde. Jahr für Jahr unterbietet das Land seinen eigenen, erschreckend niedrigen Rekord. Die Bevölkerungszahl ist deshalb 2023 das vierte Jahr hintereinander gesunken.
Einwohnerzahl halbiert sich
Die südkoreanische Fruchtbarkeitsrate liegt weit unter dem Wert von 2,1 pro Frau, der nötig wäre, damit die Bevölkerungszahl stabil bleibt. Zwar gehen die Geburtenraten in entwickelten Ländern weltweit zurück - aber in keinem Land so extrem wie in Südkorea. Das Land ist seit 2018 das einzige Mitglied der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) mit einer Rate unter 1.
Setzt sich dieser Trend fort, wird sich die Bevölkerung bis zum Jahr 2100 schätzungsweise halbieren. Aktuell liegt die Einwohnerzahl noch bei 51 Millionen. Für dieses Jahr rechnet Südkorea mit noch einem Rückgang der Geburtenziffer auf 0,68.
Südkoreas demografische Krise ist ein großes Risiko für das Wirtschaftswachstum und das Sozialsystem des Landes: Es gibt weniger Arbeitskräfte und Rekruten, Kitas und Schulen schließen, das Rentensystem ist in Gefahr.
Milliarden für Babyboom verpuffen
"Die Wirtschaft wird Arbeitskräfte brauchen, um ihren Motor in Gang zu halten", so formuliert es der Ökonom Willem Adema aus der OECD-Abteilung für Sozialpolitik im südkoreanischen Sender Arirang TV. Denn momentan kämen auf einen Rentner noch vier Arbeiter, 2060 werde das Verhältnis eins zu eins sein. Die Kosten für die Altenpflege und der Bedarf an Renteneinkommen würden deshalb dramatisch steigen. Es werde weniger Jüngere geben, die sich um ältere Menschen kümmern.
In nur 50 Jahren wird sich in Südkorea die Zahl der Menschen im erwerbsfähigen Alter halbiert haben. Es wird knapp 60 Prozent weniger Wehrpflichtige geben. Fast die Hälfte der Bevölkerung wird älter als 65 Jahre sein.
Die südkoreanische Regierung hat deshalb die Geburtenrate schon vor rund einem Jahr zur "wichtigen nationalen Agenda" erklärt. Sie hat den Präsidialausschuss für alternde Gesellschaft und Bevölkerungspolitik gegründet und in den vergangenen Jahren viel Geld in finanzielle Anreize und Maßnahmen gesteckt: Seit 2006 hat sie umgerechnet fast 250 Milliarden Euro ausgegeben, um den Trend zu stoppen: Paare mit Kindern bekommen subventionierten Wohnraum, Kinderbetreuungsgutscheine, Babysitter-Dienste und Krankenhauskosten bezahlt. Auch Unfruchtbarkeits-Behandlungen werden bezuschusst. Bisher erfolglos.
Teuerstes Land für Kindererziehung
Experten glauben, dass es zwei Hauptschuldige für die sinkenden Geburtenzahlen gibt: die gigantischen Kosten für Bildung und Wohnungen. Aus Angst vor diesen doppelten Kosten trauen sich junge Paare nicht, Kinder zu bekommen und großzuziehen.
"Korea zeichnet sich im Vergleich zu anderen Ländern durch seine hohen Kosten für private Bildung aus", sagt Adema. Durch das Hagwon-System müssten die Eltern schon in jungen Jahren hohe Kosten aufbringen, um ihre Kinder auf diese privaten Schulen zu schicken, sich für Aufnahmeprüfungen an den besten Schulen und später an den besten Universitäten zu bewerben.
Südkorea ist das teuerste Land der Welt, um ein Kind großzuziehen. Schon ab dem vierten Lebensjahr werden Kinder in teure Kurse geschickt, von Mathematik und Englisch bis zu Musik und Sport. Koreanische Familien investieren Unsummen für den Unterricht an den Privatschulen, die ihre Kinder neben der staatlichen Schule besuchen: 2022 waren es knapp 20 Milliarden US-Dollar - der bisherige Rekord. Dazu kommen noch Ausgaben für Bücher und andere Arbeitsmaterialien. Das können oder wollen sich manche Paare nicht leisten. Rund ein Viertel des Rückgangs der Geburtenraten zwischen 2015 und 2022 hängt direkt mit den exorbitanten Bildungskosten zusammen, steht in einem Bericht vom Verband der koreanischen Industrie aus dem Dezember.
52-Stunden-Woche kaum mit Familie vereinbar
Dieses System zu ändern, ist kaum möglich: In dem hart umkämpften Land ist der soziale Druck groß, dass der Nachwuchs die beste Bildung bekommt, denn in Südkorea gibt es zu wenige gut bezahlte Jobs. "Korea ist eine ziemlich wettbewerbsorientierte Gesellschaft", weiß Ökonom Adema. Die Politik könne die Abhängigkeit von diesen Schulen verringern, indem sie mehr in die öffentliche Bildung investiere.
Außerdem sind die Arbeitstage unglaublich lang. Menschen in Südkorea arbeiten im Durchschnitt 52 Stunden pro Woche, bei einer Fünf-Tage-Woche sind das 10,4 Stunden täglich. Unter den OECD-Ländern stehe Korea bei den Arbeitszeiten an der Spitze, sagt Lee Jae-hee vom Forschungsinstitut Korea Institute of Child Care bei Arirang TV. Eltern könnten sich nicht um die Erziehung ihrer Kinder kümmern. Er fordert kürzere Arbeitszeiten.
Eigentlich haben Männer und Frauen in den ersten acht Lebensjahren ihres Kindes Anspruch auf ein Jahr Urlaub. 2022 haben aber nur 7 Prozent der frischgebackenen Väter einen Teil ihres Urlaubs genommen, bei den Müttern waren es 70 Prozent.
Gebildete Mütter in Doppelrolle
Die Geschlechterrollen sind in Südkorea traditionell: Wenn Paare eine Familie gründen, müssen Frauen alles tun: sich um die Kinder kümmern, den Haushalt führen und nebenbei auch noch arbeiten und Geld verdienen.
Kein Wunder, dass sich mittlerweile viele Frauen eher für die Karriere und gegen die Familiengründung entscheiden. Immerhin haben Koreanerinnen in den OECD-Ländern die höchste Bildung und verdienen dabei viel schlechter als die Männer: Im OECD-Vergleich der Industrienationen ist Südkorea bei der Lohngleichheit der Geschlechter auf dem letzten Platz. Der Gender Pay Gap liegt bei 31,1 Prozent. Zum Vergleich: Der OECD-Mittelwert liegt bei 12 Prozent, Deutschland bei 14,2 Prozent.
Staatliche Behörden greifen zu ungewöhnlichen Maßnahmen, organisieren Dating-Veranstaltungen gegen den Trend zum Single-Leben und weniger Hochzeiten. Jung Jae-Hoon, Professor für Sozialwohl an der Ewha Womans University in Seoul schätzt solche Events bei ntv als wenig sinnvoll ein. Die Politik müsse Geld anders einsetzen. "Mehr Unterstützung für Schwangere, für Entbindung und mehr Unterstützung für Eltern. Dann würden wir wieder mehr Babys in Korea haben."
Unternehmen zahlen Eltern Kindergeld
Südkorea ist nicht das einzige Land in der Region, das mit einer schnell alternden Bevölkerung und zu wenigen Kindern zu kämpfen hat. Im Nachbarland Japan wurden vergangenes Jahr zum achten Mal hintereinander weniger Babys geboren. Japans Geburtenrate liegt auf einem Rekordtief von 1,26, in China ist sie mit 1,09 noch niedriger.
Nicht nur in Südkorea werden inzwischen die Unternehmen selbst aktiv und unterstützen Angestellte mit Kinderwunsch: Das Bauunternehmen Booyoung Group in Seoul zahlt seinen Mitarbeitern für jedes Baby umgerechnet 70.100 Euro, auch nachträglich. Angestellte mit drei Babys können sich aussuchen, ob sie das Geld oder eine Wohnung nehmen.
Ob diese Finanzspritze allein helfen wird, ist fraglich: Experten sagen, die Regierung müsse bei ihren Programmen nicht so sehr die Geburtenrate im Blick haben - sondern sich mehr um das Leben der jungen Menschen kümmern.
Dieser Text ist eigentlich ein Podcast: Welche Region schickt nur Verlierer in den Bundestag? Warum stirbt Ostdeutschland aus? Wieso geht dem Iran das Wasser aus? Welche Ansprüche haben Donald Trump und die USA auf Grönland?
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Quelle: ntv.de