Politik

Memorial-Gründerin im Interview "Die Putinzeit kann noch Jahre dauern"

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Am 14. Dezember hielt Putin seine jährliche PR-Show ab.

Am 14. Dezember hielt Putin seine jährliche PR-Show ab.

(Foto: picture alliance/dpa/TASS)

"Ich habe wenig Hoffnung, Moskau jemals wiederzusehen", sagt Irina Scherbakowa, eine der Gründerinnen der russischen Bürgerrechtsorganisation Memorial. Nach Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine verließ sie ihre Heimat. "Eigentlich bin ich ratlos", sagt sie im Interview mit ntv.de. "Ich verstehe überhaupt nicht, was die Politik im Westen macht. Das heißt: Ich kenne die Gründe, warum man so zögerlich ist mit der Hilfe für die Ukraine. Aber ich halte eine solche Politik für sehr gefährlich. Wer sich informiert, wer überhaupt die Realität wahrnimmt, der muss doch sehen, dass Putin nicht Halt machen wird."

ntv.de: Haben Sie sich neulich Putins große Jahresendpressekonferenz angesehen?

Irina Scherbakowa: Nicht die ganze Veranstaltung und in Wirklichkeit war das natürlich keine Pressekonferenz. Das ist eine Show, alle Fragen sind abgesprochen.

Irina Scherbakowa ist Germanistin und Historikerin. Noch zur Zeit der Sowjetunion war sie eine der Mitinitiatorinnen der Menschenrechtsorganisation Memorial.

Irina Scherbakowa ist Germanistin und Historikerin. Noch zur Zeit der Sowjetunion war sie eine der Mitinitiatorinnen der Menschenrechtsorganisation Memorial.

(Foto: picture alliance/dpa)

Was war das Ziel dieser Show?

Es war ein Zeichen der Präsenz. Im Dezember 2022 war die Veranstaltung ausgefallen, in diesem Jahr wollte Putin Erfolge zeigen: Erfolge an der Front, Erfolge in der Wirtschaft, eine allgemeine Beruhigung, dass es keine Mobilisierung geben wird. Dazu kamen noch Hunderte von ausgewählten Fragen, bei denen es um Kleinigkeiten ging, etwa die Verteuerung von Eiern, was angesichts der massiven Probleme im Land absolut lächerlich ist. Nicht nur die Eier werden teurer, es herrscht insgesamt Inflation. Und dann gab es noch diesen komischen Satz - als Beweis, dass die Sanktionen keine Wirkung haben: "Schauen Sie, wie viele chinesische Autos schon bei uns fahren."

Wieso war der komisch?

Das sollte den Menschen sagen, dass Russland nicht auf den Westen angewiesen ist. Aber der Satz zeigt ja auch, dass die russische Wirtschaft nicht in der Lage ist, gute Autos zu bauen. Ich glaube aber, dass die zentrale Botschaft eine andere war.

Welche?

Die zentrale Botschaft war, dass der Krieg weitergeführt werden soll, bis Russland "seine Ziele" erreicht hat. Die Umfragen zeigen einerseits, dass viele Menschen in Russland ein Ende des Krieges wollen, dass sie müde sind. Aber sie zeigen auch, dass diese Hoffnungen mit Putin verbunden sind: Er hat den Krieg angefangen, er soll ihn auch zu Ende bringen. Putin hat deutlich gemacht, dass das nicht passieren wird. Er hat nicht einmal auf die Bewegung reagiert, die es seit ein paar Wochen in Russland gibt: Frauen, deren Männer bei der Mobilmachung im September 2022 eingezogen wurden, schreiben Briefe an Putin und machen sich auch im Internet bemerkbar. Sie fordern, dass ihre Männer nach Hause kommen.

Um abzuschätzen, wie stark Putins Machtposition ist, kann man ökonomische Daten nehmen, die Umfragen des Lewada-Instituts oder die militärische Situation in der Ukraine - aber so ganz klar ist trotzdem nie, wie sicher Putin im Sattel sitzt. Was ist Ihr Gefühl?

Mein Gefühl ist, dass er sich viel sicherer fühlt als vor einem Jahr. Die Pressekonferenz fiel damals aus, weil es Misserfolge an der Front gab. Das hat sich gedreht. Die ukrainische Gegenoffensive ist nicht zustande gekommen, die Geschichte mit Wagner-Chef Jewgeni Prigoschin hat Putin auch überstanden. Alle Quellen sagen zwar, dass es massive Verluste auf der russischen Seite gibt. Aber das interessiert Putin offenbar wenig. Im Moment fühlt er sich stark.

Und die russische Wirtschaft?

Das ist eine Blase. Wir haben ja gesehen, welche Zahlen im russischen Budget stehen: 70 Prozent mehr soll es für die Armee und die Bewaffnung geben. Die Industrie läuft, weil sie auf Kriegsproduktion umgestellt wurde. Der Bedarf an Arbeitskräften ist hoch, deshalb steigen auch die Löhne. Aber die Preise für Nahrungsmittel steigen ebenfalls. Nehmen Sie Bananen: Die sind in den letzten Jahren eine Art Standardimbiss für ärmere Menschen geworden, sie wurden die am häufigsten konsumierte Obstsorte in Russland. Sie waren preiswert, sie sind praktisch für unterwegs und wenn man eine gegessen hat, fühlt man sich satt. Aber heute kosten Bananen das Doppelte.

Ist vorstellbar, dass Putin nach den Präsidentschaftswahlen im März zu Verhandlungen mit der Ukraine bereit sein wird? Dass er sein Ziel der vollständigen Eroberung und Unterwerfung der Ukraine dann aufgibt?

Das hängt davon ab, wie sich die Kriegshandlungen entwickeln. Das Jahr geht tragisch zu Ende und ich bin in großer Sorge. In der Ukraine sind die Menschen auch müde - aber die Ukraine hat dreimal weniger Einwohner als Russland, im Verhältnis zur Bevölkerung gibt es dort viel weniger Ressourcen. Eigentlich bin ich ratlos. Ich verstehe überhaupt nicht, was die Politik im Westen macht. Das heißt: Ich kenne die Gründe, warum man so zögerlich ist mit der Hilfe für die Ukraine. Aber ich halte eine solche Politik für sehr gefährlich. Wer sich informiert, wer überhaupt die Realität wahrnimmt, der muss doch sehen, dass Putin nicht Halt machen wird. Wenn er sich sicher fühlt, wird er weitergehen. Er ist zum fanatischen Geopolitiker geworden. Dass Orban, …

… der ungarische Ministerpräsident …

Dass Orban die Europäische Union so blockieren kann, das ist absolut unerträglich. Und dazu die Blockade der Republikaner im US-Kongress. Dahinter steht eine unglaubliche Kurzsichtigkeit.

Was meinen Sie damit, dass Putin nicht Halt machen wird?

Durch den Krieg in der Ukraine ist Putin derzeit nicht in der Lage, ein weiteres Land anzugreifen. Aber wenn er in der Ukraine in seinem Sinne siegt, würde das die autoritären Kräfte in ganz Europa stärken, die Rechtsradikalen, die Populisten.

Dann glauben Sie, die ehemaligen Sowjetrepubliken wie die baltischen Staaten sind sicher?

Momentan sind sie das, Gott sei Dank. Und hoffentlich zieht die NATO aus diesem Krieg die richtigen Lehren. Denn vor allem dort, wo es eine russische Bevölkerung gibt, an den Grenzen zu Russland, besteht eine ständige Gefahr. Die Republik Moldau ist in meinen Augen in großer Gefahr.

Sie sind Russin und hoffen auf eine russische Niederlage. Ist das für Sie ein innerer Konflikt?

Ich bin Russin. Aber ich gehöre nicht zu Putins Russland - überhaupt nicht. Ich weiß nicht, ob ich das noch erleben werde, aber wenn Russland irgendeine Chance hat, sich wieder Richtung Freiheit und Demokratie zu bewegen, dann nur, wenn Putin diesen Krieg verliert. Mit Putin ist das absolut undenkbar. Er hat das Land psychisch und moralisch in einen Abgrund gestürzt. Ich sehe, wie die Angst die Menschen erfasst hat, wie sie schweigen, wie sie es vermeiden, über den Krieg zu sprechen. Ich kenne das - ich bin in einer Situation aufgewachsen, in der es ebenfalls Schweigen, Zensur und Verfolgung gab. Aber in gewisser Weise ist es jetzt viel schrecklicher als damals, weil wir aus der relativen Freiheit der 1990er-Jahre in eine Diktatur gerutscht sind. Das ist fürchterlich. Kein Tag vergeht, ohne dass Menschen, die man kennt, angeklagt oder verurteilt werden. In den russischen Gefängnissen wird gefoltert. Ich habe Freunde und Kollegen in Russland, die trotz des Drucks weiterarbeiten. Aber mit diesem Staat habe ich nichts zu tun, will ich nichts zu tun haben. Solange es meine Kräfte erlauben, werde ich gegen Putins Staat sprechen. Das mache ich, das macht Memorial ja schon seit Jahren. Eigentlich seit Beginn der Putinzeit.

Wenn Sie einen Grund nennen müssten, warum Russland die Chance nicht genutzt hat, zu einer Demokratie zu werden, welcher wäre das?

Es ist immer schwierig, wenn man nur einen Grund nennen soll. Aber vielleicht gibt es einen großen Grund, hinter dem weitere Gründe stecken: Für Russland war es absolut ungewohnt, in Freiheit zu leben. Die zehn Jahre, die den Menschen seit 1989 beschert waren, waren sehr schwierig. Bei den meisten haben die 1990er-Jahre dazu geführt, dass sie denken: Was nützt uns die Freiheit? Der Staat kann sowieso alles mit uns machen - besser, man macht einen Deal mit ihm. Putin hat so einen Deal vorgeschlagen: Ihr haltet still, dafür bekommt ihr Konsum, Stabilität und Sicherheit.

Sie haben neulich in Berlin den Jahrestag der Nobelpreisverleihung an Memorial gefeiert und dazu auch Vertreter der beiden Bürgerrechtsorganisationen aus der Ukraine und aus Belarus eingeladen, die den Preis 2022 zusammen mit Memorial bekamen. Wie ist es für Sie, Ukrainerinnen und Ukrainer zu treffen?

Das sind Kollegen, wir treffen uns regelmäßig bei Veranstaltungen. Memorial hat eine Organisation in der Ukraine, die seit 1989 dort arbeitet, seit der Gründung von Memorial. Es gibt dort ein gemeinsames Projekt, in dem russische Kriegsverbrechen dokumentiert werden, das machen unsere ukrainischen Kollegen. Deren Berichte übersetzen wir in acht Sprachen. Übrigens habe ich auch Wurzeln in der Ukraine. Meine Großeltern von beiden Seiten sind dort geboren. Mein Vater ist am 22. Juni 1941 von der Ukraine aus in den Krieg gezogen. Am 9. Mai fuhr er immer nach Kiew, um den Tag des Sieges dort mit seinen ukrainischen Freunden zu begehen. Ich war auch oft in Kiew, seit langer Zeit haben wir ein Ferienhaus in der Gegend von Poltawa, in dem wir häufig den Sommer verbracht haben. Am Ende ist es nur ein Spiel des Schicksals, dass meine Großeltern nicht in Kiew geblieben sind, wo sie seit 1917 waren, sondern nach Moskau gezogen sind, und dass mein Vater nach dem Krieg nicht in die Ukraine zurückkehrte - der Rest der Familie war im Oktober 1941 von den Deutschen ermordet worden, weil sie Juden waren.

Und gleichzeitig fühlt man sich als Russin ganz schrecklich angesichts dieser fürchterlichen Tragödie, dieser fürchterlichen Verbrechen, die der Ukraine im Namen Russlands angetan werden. Vor allem, weil wir die Entwicklung nicht gestoppt haben, die zu dieser Katastrophe geführt hat. Ich glaube, Erich Kästner hat mal über Kurt Tucholsky gesagt, dass er mit seiner Schreibmaschine eine Katastrophe aufhalten wollte - den Nationalsozialismus. So ähnlich fühlen wir uns manchmal auch. Deshalb kann ich auch den Zorn der Ukrainer verstehen.

Auch den Zorn der Ukrainer auf alles, was aus Russland kommt?

Ich kann das verstehen. Aber wissen Sie, ich bin ein praktischer Mensch und ich finde, dass alle zusammenhalten müssen, die dieses Regime ablehnen. Ich sehe deshalb alle, die gegen Putin sind, als Verbündete. Naja, vielleicht nicht alle. Einige russischen Emigranten betreiben für meinen Geschmack ein bisschen zu sehr Nabelschau. Wenn man sein eigenes Schicksal zu sehr beweint, geht mir das in Anbetracht dessen, was sich in der Ukraine abspielt, auf den Geist. Emigration ist allerdings kein Honigschlecken. Wenn man 70 Jahre in einem Land gewohnt hat, dort Freunde hat, eine Wohnung, Bücher und mit zwei Koffern in der Hand alles hinter sich lassen muss - das ist nicht schön. Bislang kannte man das nur aus den Biografien der Russen und der Deutschen, die vor vielen Jahrzehnten ins Exil gingen. Aber unser Exil war ein Gang aus freien Stücken, es ist kein Vergleich mit den Ukrainern, die ausgebombt wurden, flüchten müssen vor den russischen Besatzern. Das ist überhaupt nicht vergleichbar.

Lesen Sie jetzt manchmal die Bücher von deutschen oder russischen Exil-Autoren?

Am Anfang habe ich mich häufig an diese Bücher erinnert, die ich früher gelesen habe. Jetzt ist man so im Sog der täglichen Nachrichten, dass kaum noch Zeit bleibt, sich in solche Bücher zu vertiefen.

In Russland werden derzeit Bücher aus der deutschen Exil-Literatur neu aufgelegt, zum Beispiel "Die Geschichte eines Deutschen" von Sebastian Haffner. Auch der offene Brief von Thomas Mann, "Warum ich nicht nach Deutschland zurückkehre" aus dem Jahr 1945 oder die Texte über "Die Schuldfrage" von Karl Jaspers von 1946. Ich weiß, dass viele Russen jetzt Bücher der früheren Exilrussen lesen, die damals nach der Oktoberrevolution nach Berlin oder Paris geflohen sind. Das ist keine aufbauende Lektüre, überhaupt nicht. Diese Exilrussen saßen einige Jahre buchstäblich auf ihren Koffern, weil sie die Hoffnung hatten, dass die Roten den Bürgerkrieg nicht gewinnen würden. Um ehrlich zu sein: Ich habe wenig Hoffnung, Moskau jemals wiederzusehen. Die Putinzeit kann noch Jahre dauern. Aber anderseits - man hat keine Illusion, wie damals in den 1920er- und 30er-Jahren, dass dort in der Sowjetunion eine neue Welt entsteht, ein kommunistischer Traum verwirklicht wird. Nein, was sich unter Putin gebildet hat, hat keine Zukunftsperspektive.

Mit Irina Scherbakowa sprach Hubertus Volmer

Quelle: ntv.de

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