Wirtschaft

Vom Doppel-Wumms zur BIP-Flaute Deutschland braucht eine neue Geschäftsgrundlage

00:00
Diese Audioversion wurde künstlich generiert. Mehr Infos
Die Folgen blinder Sparwut sind überall sichtbar: Hier Abrissarbeiten an der Carolabrücke in Dresden nach dem Teileinsturz im September.

Die Folgen blinder Sparwut sind überall sichtbar: Hier Abrissarbeiten an der Carolabrücke in Dresden nach dem Teileinsturz im September.

(Foto: picture alliance / PIC ONE)

Der Standort Deutschland steckt in der größten Krise seiner Geschichte: Volkswagen, das Symbol des deutschen Wohlstands, kämpft ums Überleben - so wie das ganze Land. Ein Cocktail aus geopolitischen Krisen, hausgemachten Problemen und Managementversagen lähmt die Republik.

Als Olaf Scholz im Herbst 2022 wenige Monate nach Wladimir Putins Überfall auf die Ukraine der Öffentlichkeit Mut zu machen versuchte, prägte er den vielleicht deutschesten aller Begriffe. Mit dem "Doppel-Wumms" wollte der Kanzler die explodierenden Preise für Strom und Gas deckeln und das Land aus der Krise führen. Doch zwei Jahre später ist der Doppel-Wumms zum Doppel-Hänger geworden.

Das zweite Jahr in Folge steckt Deutschland offiziell in der Rezession. Obwohl die Inflation deutlich zurückgeht und auch die Zinsen wieder sinken, wächst Deutschland nicht, sondern schrumpft: 2023 um 0,3 Prozent, 2024 nun voraussichtlich um 0,1 Prozent. Und auch 2025 haben die Konjunkturforscher das Wachstum vorsorglich von 1,4 auf 0,8 Prozent nach unten korrigiert.

Zugleich geraten die Ikonen der deutschen Wirtschaft ins Wanken. Erstmals seit 30 Jahren könnten bei Volkswagen tausende Jobs gestrichen und sogar Werke geschlossen werden. Der größte deutsche Konzern hat sich festgefahren und ist nicht mehr wettbewerbsfähig. Erstarkende Konkurrenz aus Asien, Absatzflaute und hausgemachte, seit Jahren ungelöste Probleme: So wie Volkswagen geht es längst ganz Deutschland.

Denn Experten sehen in der deutschen Krankheit längst mehr als nur eine Schwächephase. Wie bei Volkswagen in der Wolfsburger Chefetage haben auch die Manager im Berliner Kanzleramt das Land in die falsche Richtung gesteuert. Der Standort Deutschland steckt in der tiefsten Krise seiner Geschichte. Eine Mischung aus weltweiter Dauerkrise, Strukturproblemen und blinder Sparwut lähmt das Land. Die deutsche Wirtschaft braucht eine neue Geschäftsgrundlage.

Das Modell Deutschland hat einen Knacks

Historisch hat sich die Wende lange angekündigt. Die Geschichte der Bundesrepublik ist auch eine Geschichte sinkenden Wachstums: Während das Land in den 50er Jahren im Schnitt mit mehr als acht Prozent jährlich wuchs, waren es in den 70er Jahren noch knapp drei Prozent. Und im letzten Jahrzehnt bis 2020 dann lediglich knapp ein Prozent.

Seit der Pandemie ist Deutschland endgültig Schlusslicht unter den größten G7-Wirtschaftsnationen. Während sich die Weltwirtschaft längst erholt hat, geht es hierzulande nicht voran. Nach dem Corona-Schock 2020 (-4,1 Prozent) und dem Lockdown-Aufholjahr 2021 (+3,7 Prozent) gab es 2022 noch ein Mini-Wachstum von 1,4 Prozent. Seitdem ist die Wirtschaft nicht wieder in Schwung gekommen. Mit der Covid-Krise hat das deutsche Geschäftsmodell einen Knacks bekommen, von dem es sich bis heute nie wieder richtig erholt hat.

Das ist zum einen einfach Pech: Die internationalen Gewichte haben sich gegen Deutschland verschoben. Mit billiger Energie aus Russland und florierenden Exporten in die USA und China ist das Land reich geworden. Von offenen Grenzen, europäischer Einigung und den Weltmärkten hat Deutschland seit den 90er Jahren profitiert wie kaum ein anderes Land der Welt. Doch diese Ära der Turbo-Globalisierung endet nun. Und mit ihr droht das Erfolgsrezept der deutschen Wirtschaft zu kippen.

Festgefahren im Tief der globalen Dauer-Krise

Washington und Peking schwingen immer stärker den Zollhammer. Die einstigen Zugpferde der Weltwirtschaft schwächeln und schotten sich ab. "China ist zu einem Systemrivalen geworden", sagt ING-Chefökonom Carsten Brzeski. "Und auch von der US-Konjunktur profitieren wir nicht mehr in dem Maße wie in der Vergangenheit, wegen des zunehmenden Protektionismus dort." Der Welthandel schrumpft, die Exporte stagnieren. Das trifft vor allem Deutschland.

Besonders China, wo die kommunistische Partei ebenfalls seit Jahren unter einem Berg ungelöster Probleme ächzt, bekommt nun die Quittung und schwächelt. Und im drohenden Wirtschaftskrieg mit den USA wäre wieder vor allem Deutschland das Opfer. Sollte Donald Trump im November ins Weiße Haus zurückkehren und wie geplant seine Zollmauern hochziehen, könnten die deutschen Exporte um 15 Prozent einbrechen, schätzt das Ifo-Institut.

Die deutsche Industrie, von der rund ein Drittel der Wertschöpfung abhängt, steckt deshalb in der Sackgasse. Statt von Autos, Maschinen oder Chemieprodukten dürften die deutschen Exporte künftig "eher von IT-Dienstleistungen oder dem Reiseverkehr getragen werden", schreibt das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW). Gleichzeitig liegt die Binnennachfrage am Boden. Denn weil der Exportmotor Deutschland gezogen hat, gab es kaum Lohnwachstum.

Die Deutschen spüren die globale Dauer-Krise und halten ihr Geld zusammen. Aktuell sitzen sie auf gigantischen Spareinlagen von 10,8 Prozent des verfügbaren Einkommens. "Die derzeitige Schwäche des privaten Konsums sollte ein Weckruf für die Politik sein", warnt DIW-Chef Marcel Fratzscher. Wirtschaftsminister Robert Habeck hält die Flaute für bewältigt: Die Krise sei "jetzt drei Viertel, würde ich sagen, bestanden". Doch so einfach ist es nicht.

Deutschland ist zu teuer, zu bürokratisch und schrumpft

Schon vor Euro-Krise, Covid-Pandemie und Ukraine-Krieg hat sich Deutschlands internationale Wettbewerbsfähigkeit immer mehr verschlechtert. Vor allem die hohen Energiepreise, die durch die russische Invasion der Ukraine noch mehr explodiert sind, sind ein Problem. Im Schnitt liegen die Strompreise hierzulande mehr als doppelt so hoch wie in China oder den USA.

Schuld daran ist nicht unbedingt der Abbau der Atomkraftwerke oder der Kohleausstieg. Sondern dass Deutschland die Grundlage der Energiewende vergessen hat: den Ausbau der Stromnetze. Die Kosten für neue Leitungen und den Betrieb machen inzwischen bis zu einem Viertel des Strompreises aus. Denn sie werden von den regionalen Netzbetreibern einfach aufgeschlagen. Dort, wo besonders viele Windräder und Solarparks gebaut werden, ist Strom daher besonders teurer.

Ein weiteres Strukturproblem ist die legendäre deutsche Bürokratie. Eine Firma zu gründen, dauert hierzulande laut IWF im Schnitt mehr als 120 Tage - doppelt so lang wie in allen anderen OECD-Ländern. Für einen Windpark braucht man laut EU-Kommission noch mehr Geduld: etwa 5 bis 6 Jahre. Und bei der Digitalisierung ist Deutschland nahezu Entwicklungsland: Gerade mal rund 11 Prozent aller Haushalte haben einen Glasfaser-Anschluss - der drittletzte Platz unter allen OECD-Ländern. Und im E-Government-Ranking der EU-Kommission schafft es Deutschland gerade mal auf Rang 21 von 35 europäischen Ländern.

Hinzu kommt auch noch eine tickende Zeitbombe. In allen Industrieländern schrumpft die Erwerbsbevölkerung, aber kaum irgendwo schneller als in Deutschland. Schon am Ende des Jahrzehnts werden nur noch rund 60 Prozent der Bevölkerung überhaupt arbeiten. Der Rest geht in die Schule oder den Kindergarten, studiert oder bekommt Rente.

Der Spar-Fetisch fesselt das Land

Um Deutschlands Geschäftsmodell umzustellen, bleiben also nur noch wenige Jahre. Geld genug, um gegen den Niedergang anzuinvestieren, gäbe es eigentlich reichlich. Doch Deutschland spart sich freiwillig kaputt. Jahrelang kannte die Politik nur ein oberstes Ziel: die schwarze Null. Nach zwei Jahrzehnten Sparpolitik sehen die öffentlichen Haushalte glänzend aus: Mit gerade mal 64 Prozent seiner Wirtschaftsleistung steht Deutschland in der Kreide. In den USA sind es mehr als 120 Prozent, in Japan mehr als 250 Prozent.

Doch hinter der makellosen Schuldenbilanz bröckeln die Brücken, kommt die Deutsche Bahn zu spät und ist die Bundeswehr nicht verteidigungsfähig. Jahrelang wurde zu wenig in Schienen, Straßen, Schulen, Polizei, Justiz und Verteidigung investiert. Die Quittung: Auf 600 Milliarden Euro schätzt etwa das Institut der Deutschen Wirtschaft (IW) den gigantischen Investitionsstau bei der maroden Infrastruktur.

Für seinen Schönheitspreis bei den Schulden kann Deutschland sich nichts kaufen. Dennoch haben die Volksparteien den blinden Sparzwang zum Verfassungsrang erhoben. Und sich damit in ein Finanzkorsett gezwängt, das nun das ganze Land lähmt. Nicht bloß linke Gewerkschafter, selbst die britische "Financial Times", der Unternehmer Harald Christ und sogar der Internationale Währungsfonds fordern: Deutschland braucht eine Reform der Schuldenbremse und sollte mehr Geld investieren. Wie bei jedem Rückschlag steckt auch in der Deutschland-Krise die Chance für einen Neuanfang. Wie bei VW in Wolfsburg müssen die politischen Manager in Berlin die Weichen neu stellen.

Quelle: ntv.de

Newsletter
Ich möchte gerne Nachrichten und redaktionelle Artikel von der n-tv Nachrichtenfernsehen GmbH per E-Mail erhalten.
Nicht mehr anzeigen