Die Angst vor dem öffentlichen Klo "Ich dachte, ich bin verrückt"
10.01.2011, 10:16 Uhr
In großem Bogen pinkelt die Brunnenfigur "Manneken Pis" in Brüssel ins Becken.
(Foto: picture-alliance / dpa/dpaweb)
entwickelt sich schleichend über viele Jahre hinweg. Betroffene sind den größten Teil ihres Tages damit beschäftigt, ihr Leiden geheim zu halten, Trinkpläne zu erstellen und zu überlegen, ob sie rechtzeitig nach Hause kommen, um ungestört zu urinieren. Wie es gelingen kann, trotzdem ein einigermaßen normales Leben zu führen, erzählt der 22-jährige Tom in einem Gespräch mit n-tv.de.
n-tv.de: Wann haben Sie denn bemerkt, dass Sie wirklich Probleme beim Wasserlassen haben?
Tom: Ach, das ist schwierig zu sagen, wann ich tatsächlich merkte, dass es da echte Probleme gab. Ich glaube, das war im Alter zwischen 12 und 13 Jahren. Davor wusste ich zwar immer, dass ich manchmal nicht pinkeln kann, habe das aber zu dieser Zeit noch nicht als Problem wahrgenommen. Das Ganze war ein schleichender Prozess, der ganz harmlos anfing und sich dann über die Jahre gesteigert hat. Ich habe nun ungefähr, seit ich acht Jahre alt bin, Paruresis.
Was heißt denn, Sie konnten manchmal nicht auf öffentliche Toiletten gehen?
Zu Beginn waren es nur manche Situationen, z.B. auf Raststättenklos oder anderen viel besuchten öffentlichen Toiletten. Ich habe mir das Pinkeln lieber verkniffen und so wenig wie möglich getrunken. Später habe ich mehr und mehr öffentliche Toiletten gemieden. Aber ich habe darunter nicht allzu sehr gelitten oder mir darüber Sorgen gemacht. Mit der Zeit wurde jedoch die Hemmung, auf öffentlichen Toiletten zu pinkeln, immer stärker - und damit auch meine Probleme.
Wann hat Ihr Problem einen Namen bekommen?
Das erste Mal habe ich 2004 einen Artikel im Internet zum Thema Paruresis gelesen und so erfahren, dass auch andere Menschen dieselben Probleme haben wie ich. Das war zu diesem Zeitpunkt sehr gut, da ich nicht mehr geglaubt habe, ich sei verrückt. Wirklich gebracht hat es mir jedoch nichts, da ich mich nicht dazu aufraffen konnte, das Problem in Angriff zu nehmen und darüber zu sprechen.
Was hat Ihnen denn etwas gebracht?
Die Kehrtwende kam 2007, als ich wegen einer wichtigen Untersuchung ins Krankenhaus musste. Ich hatte den Aufenthalt schon mehrmals verschoben, da ich riesige Angst hatte, denn im Krankenhaus ungestört Wasserlassen zu können, konnte ich mir gar nicht vorstellen. So machte meine Mutter den Termin, ohne mich zu fragen, und ich war endlich gezwungen, mein Problem gegenüber meiner Familie zu offenbaren. Kurze Zeit darauf ging es mir schon wesentlich besser, weil der Druck des Geheimhaltens von mir wich. Seitdem bin ich kontinuierlich gegen meine Angst vorgegangen und habe es auch meinen Freunden erzählt. Damit haben auch innerer Druck und Stress deutlich nachgelassen.
Wie sah denn Ihr Alltag aus, bevor Sie sich ihrer Familie geöffnet hatten?
Ich hatte einen enormen Leidensdruck auf verschiedenen Ebenen. Der Alltag beispielsweise war extrem durchgeplant und strukturiert. Ich habe quasi jeden Schluck, den ich getrunken habe, in meinem Tagesablauf berechnet. Ich hatte mir einen strikten Trinkrhythmus angewöhnt. Spontane Treffen mit Freunden oder Kinobesuche fielen natürlich aus, meistens mit fadenscheinigen Ausreden. Die Vermeidungshaltung wird kultiviert. Das ist sehr anstrengend. Dazu kommt, dass ich ständig meinen Blasendruck überprüft und versucht habe, einzuschätzen, wie viel Zeit mir noch bis zum nächsten ungestörten Toilettengang bleibt. Ich bin in den Phasen, als es am schlimmsten war, sogar mit dem Fahrrad in den Wald gefahren, um dort zu pinkeln, weil ich zuhause nicht mehr konnte, wenn zu viele andere Menschen anwesend waren. Es ist für Nicht-Paruretiker vielleicht nur schwer nachvollziehbar, aber Paruresis belästigt die Betroffenen nicht nur auf der Toilette, sondern ist quasi in jedem Moment präsent und kann auch wichtige Entscheidungen wie die Wahl des Wohnorts oder des Berufes betreffen. Es beeinflusst das gesamte Leben.
Welche waren die größten Beeinträchtigungen durch Ihre schüchterne Blase?
Urlaube und Konzerte beispielsweise habe ich mir sehr oft versagt, denn schon die Vorstellung davon war mir zu anstrengend. Aus diesen Vermeidungen entstanden wieder andere Vermeidungen. Es folgte ein ganzer Rattenschwanz. Ich bin weniger ausgegangen und habe auch Schwierigkeiten gehabt, andere Jugendliche oder auch Mädchen kennenzulernen. Selbst wenn ich mich mal mit einem Mädchen getroffen habe, war das kompliziert, weil die Treffen ja immer nur solange dauern konnten, wie ich nicht zur Toilette musste. Dadurch wurde ich noch schüchterner und zog mich immer mehr zurück. Mit diesen Veränderungen wächst die Angst. Druck und Scham nehmen enorm zu, was sich wiederum sehr negativ auf das Selbstbewusstsein auswirkt und zu Depressionen führen kann. Das machte das Pinkeln dann noch schwerer, selbst zu Hause.
Wer oder was half Ihnen, mit der Phobie umzugehen?
Es hat mir sehr geholfen, über mein Problem zu sprechen. Ich habe mehr und mehr Freunde eingeweiht und sogar auch Bekannten Bescheid gesagt. Außerdem habe ich in Foren auf Paruresis-Seiten im Internet meine Erfahrungen geschildert und mich mit anderen ausgetauscht. Ich habe mir die einschlägigen Bücher über Paruresis gekauft und gelesen. Sehr gut war auch die Erfahrung eines Workshops 2009. Die International Paruresis Association organisiert weltweit diese Wochenenden. Ich habe dort andere Betroffene kennengelernt, mich mit ihnen ausgetauscht und Pinkeln in Anwesenheit anderer und sogar in der Öffentlichkeit geübt. Das heißt, man bekommt einen oder mehrere "Pee-Buddys" zugeteilt und kann dann selbst aussuchen, wo diese sich aufhalten, während man zur Toilette geht. An diesen Wochenenden wird natürlich viel getrunken, damit die Betroffenen auch viele Übungsmöglichkeiten haben. Viele machen bei und nach diesen Workshops immense Fortschritte.
Wie geht es Ihnen heute?
Ich schäme mich viel weniger als früher und versuche immer weniger Dinge zu vermeiden. Ganz gut hilft mir eine bestimmte Atemtechnik, die sich "Breath Holding" nennt. Diese Atemtechnik ist im Internet ausführlich beschrieben. Aus noch nicht ganz erforschten Gründen kann man durch Luftanhalten den Schließmuskel sozusagen erzwungenermaßen zum Erschlaffen bringen. Ich übe das seit einigen Wochen und habe damit unheimliche Erfolge. Ich kann sogar pinkeln, obwohl Leute direkt neben mir stehen. Das habe ich schon seit etlichen Jahren nicht mehr gemacht. Wichtig ist allerdings, die richtige Atemtechnik zu trainieren, sonst klappt es nicht.
Was raten Sie anderen Betroffenen?
Also, für mich war es essenziell, darüber zu reden und darüber reden zu können. Bei mir hat es mehr als die Hälfte des Alltagsdrucks genommen. Es ist wichtig, sich zu seiner Angst zu bekennen. Ich durfte die Erfahrung machen, dass meine Mitmenschen mit viel Verständnis und Mitgefühl reagiert haben. Zudem sollten Paruretiker vielleicht auch das "Breath Holding" ausprobieren. Ich bin jedenfalls begeistert davon.
Mit Tom sprach Jana Zeh
Quelle: ntv.de