Die Steinzeit passte besser Mensch lebt nicht mehr artgerecht
31.03.2011, 10:16 Uhr
Leben fernab der Steinzeit: Der Körper zieht nicht mit.
(Foto: picture alliance / dpa)
Nie zuvor war der Mensch einer derartigen Schnelllebigkeit ausgesetzt wie heute. Tempogetrieben bewegen wir uns durch den Alltag, Multitasking und Flüchtigkeit gehören zum Zeitgeist. Wir gehen mit, wir werden immer neuen Anforderungen gerecht. Doch an diversen Krankheiten zeigt sich, dass wir die Rechnung offenbar ohne den Wirt machen: Der menschliche Körper ist nämlich gar nicht in der Lage, sich ausreichend schnell an die neuen Gegebenheiten anzupassen.
Ob Rückenschmerzen, Diabetes oder Depressionen, ob Heuschnupfen oder Fehlsichtigkeit - die Evolutionsmedizin hat für diese Zivilisationskrankheiten eine recht einleuchtende Erklärung: Wir sind einfach nicht für das Leben im 21. Jahrhundert geschaffen. Oder anders ausgedrückt: Die Biologie des Menschen kann sich gar nicht so schnell entwickeln, wie es für den aktuellen Lebensstil nötig wäre. Die Evolution hinkt der zivilisatorischen Entwicklung deutlich hinterher.
"Körperlich und geistig sind wir bei der Geburt im Grunde mit den Menschen identisch, die vor 10.000 oder auch 100.000 Jahren gelebt haben", sagt Wissenschaftsautor Thilo Spahl. Gemeinsam mit Detlev Ganten und Thomas Deichmann hat Spahl ein Buch geschrieben, das 2010 zum Wissenschaftsbuch des Jahres gekürt wurde. Die Steinzeit steckt uns in den Knochen, geben die Verfasser mit ihrem Werk kund. Im Gespräch formuliert es Spahl ein wenig anders: "Wir haben die Körper von Jägern und Sammlern", sagt er. Welche Konsequenzen sich daraus ergeben, erschließt sich vielleicht nicht unmittelbar. Spahl bringt die Botschaft schnell auf den Punkt: "Wir sind von Natur aus Läufer."
Wir alle, wohlgemerkt. Nicht nur die endorphinberauschten Waldlaufgruppen und Marathon-Communitys. Nicht nur die noch existierenden Urvölker in Südamerika und Afrika, die auch heute noch so leben, wie wir es nur von Fred Feuerstein kennen. Nein, wir alle. Die, die jede Woche gut 40 Stunden mit fast viereckigen Augen auf den Bildschirm starren ebenso wie die, die an Kassen sitzen oder stehen, die in den Laboren wissenschaftlicher Einrichtungen Wurzeln schlagen, oder auch die, die Tag für Tag zuschauen müssen, wie sich vor allem eines bewegt: das Fließband unter ihren Händen. Der Läufernatur – das müssen wir zugeben – werden viele von uns nicht gerecht. Bewegung hat in unserem Leben meist nicht gerade Priorität. Vielleicht ein- bis zweimal die Woche am Abend. Aber sonst?
Ohne Körpereinsatz keine Nahrung

Die Hadza in Tansania gehören zu den wenigen Volksgruppen, die heute noch als Jäger und Sammler leben.
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Für unsere frühen Vorfahren bedeutete es, dass die Mahlzeit ausfiel, wenn sie träge in der Höhle hingen. Fleisch mussten sie sich erjagen, Früchte, Pilze und Wurzeln mussten sie sammeln, und später, als unsere Vorfahren dauerhaft sesshaft wurden, arbeiteten sie auf dem Feld und betrieben Landwirtschaft. "Bis zur Erfindung des Bürojobs", so Spahl, "waren praktisch alle Menschen und alle unsere tierischen Vorfahren über hunderte von Millionen von Jahren täglich viele Stunden körperlich aktiv." Heute ist das meistens anders, und das Ergebnis ist eindeutig: "Heute ist unser Körper chronisch unterfordert", sagt der Experte.
Da leidet natürlich die Muskulatur. Sie wird schlaff und verkürzt sich. Daraus entstehen Fehlhaltungen und Schmerzen. Es leiden die Lendenwirbel, die den aufrechten Gang erleichtern, jedoch nicht zum Sitzen geeignet sind. Es leiden die Füße, die ursprünglich unbeschuht durch die Steppe laufen sollten. Es leiden die Augen, denn unser Blick müsste viel häufiger in die Ferne schweifen. Und auch unser Stoffwechsel ist auf Bewegung angewiesen: Beanspruchen wir unsere Muskeln nicht, nehmen diese keinen Zucker aus dem Blut auf. Der Glukosespiegel in den Gefäßen steigt folglich an, und um ihn zu senken, produziert die Bauchspeicheldrüse großzügig Insulin. So großzügig, dass die Körperzellen gegen Insulin resistent werden. Damit gerät der Zuckerstoffwechsel ins Wanken. Die so entstehende Krankheit heißt Diabetes und breitet sich so rasant aus, dass Fachleute von einer Epidemie sprechen.
Verhängnisvolles Erbe
Bewegung und Ernährung stehen folglich in einem engen Zusammenhang, wenn es um unsere Gesundheit geht. Für die Jagd haben wir von unseren Vorfahren gelernt, wie wir mit unseren Kräften haushalten und wie wir unser Überleben sichern. Doch bei der heutigen Lebensweise werden uns steinzeitliche Erkenntnisse geradezu zum Verhängnis. Die Ärztin Luzie Verbeek, die über Evolutionsmedizin promoviert hat, erklärt das folgendermaßen: "Für unsere frühen Vorfahren war es sinnvoll, bei einer nahrungsreichen, großzügigen Umwelt selbst körperlich mal Energie zu sparen, sich also nicht zu verausgaben. Und wenn Nahrung da war, dann sollte sie sofort gegessen werden." Diese Maximen begleiten auch heute noch viele Menschen durch den Tag. In den gesättigten Industrienationen führen sie jedoch, wie Verbeek feststellt, schnell zu Übergewicht und in der Folge zu Diabetes, Herz-Kreislauf-Problemen und Gelenküberlastungen.
Begünstigt werden diese Erkrankungen durch die Tatsache, dass der menschliche Organismus gar nicht darauf ausgerichtet ist, so viele konzentrierte Kohlehydrate in Form von Mehl und Zucker zu sich zu nehmen, wie es heute meist der Fall ist. Der Getreideanbau ist evolutionär betrachtet ein sehr junges Phänomen. "Da Menschen erst seit gut 10.000 Jahren Ackerbau betreiben", so Evolutionsexperte Spahl, "ist unser Körper schlecht an Getreide angepasst. Und an Zucker schon gar nicht."
Zwei Beine, viele Kompromisse
War die Welt also in der Steinzeit noch in Ordnung? Standen Lebensstil und biologisches Erbe bei den Jägern und Sammlern noch miteinander im Einklang? "Mit ein wenig Reflexion hätten wahrscheinlich auch die Steinzeitmenschen schon festgestellt: 'Nein, so richtig artgerecht leben wir nicht'", meint Medizinerin Verbeek. "Vermutlich hatten auch die Steinzeitmenschen schon Rückenschmerzen, denn auch sie liefen schon auf zwei Beinen." Immerhin: Sie liefen. Sie verbrachten nicht die meiste Zeit im Sitzen.
Die evolutionären Meilensteine waren in der Steinzeit schon Geschichte. Durch den aufrechten Gang hatten sich Wirbelsäule und Skelett bereits verändert, auch das Kreislauf-System war ein anderes als vorher. Die Hände waren schon lange frei, und der Mensch wusste sie zu nutzen. Die Gehirnentwicklung hatte eingesetzt, das Gehirn – und damit auch der Schädel – waren größer geworden. Das war nicht ausschließlich von Vorteil, denn das Geburtsrisiko stieg dadurch an: Hatte sich der Geburtskanal durch die veränderte Beckenstellung beim aufrechten Gang sowieso schon verengt, taten die nun größeren Babyköpfe ihr Übriges, um Geburten zur schmerzhaften Millimeterarbeit werden zu lassen. – In diesem Punkt half und hilft auch Bewegung nicht weiter. "Evolution ist eben", wie Verbeek hervorhebt, "ein Kompromiss." Doch den wesentlichen Zivilisationskrankheiten kann durch regelmäßigen Sport – und Spahl zufolge bedeutet regelmäßig täglich – effektiv vorgebeugt und entgegengewirkt werden.
Wer passt sich wem an?
Wird sich die menschliche Wirbelsäule denn nach und nach den neuen Anforderungen anpassen? Wird sie irgendwann auf stundenlanges Sitzen ausgerichtet sein? Ohne Probleme im Lendenwirbelbereich und ohne Verformungen? "Das geschieht nur, wenn die Wirbelsäulenprobleme die Reproduktivität des Menschen beeinträchtigen", erklärt Verbeek. "Aber so gravierend, dass es deswegen weniger Kinder gibt, sind Rückenschmerzen nicht. Daher geschieht eher das Umgekehrte", schlussfolgert die Medizinerin. "Die Bürostühle passen sich an."
In Sachen Stoffwechsel, Trägheit und zuckerreicher Nahrung könnte das anders sein. Schließlich ist Übergewicht bei aktuellen Schönheitsmodellen nicht vorgesehen. Vielmehr kollidiert es mit dem Ideal. "Von daher", so Verbeek, "ist hier ein gewisser Selektionsdruck vorhanden. Da wird zumindest eine Disziplin aufgebaut, sich dem Übergewicht entgegenzustemmen." Wenn der schlechte Zuckerstoffwechsel die menschliche Reproduktivität tatsächlich negativ beeinflusst, könnte das dazu führen, dass die Evolution nachbessert. Doch bis dahin tun wir unserer Gesundheit einen großen Gefallen, wenn wir dem Steinzeitmenschen in uns ein Stück entgegengehen.
Das kann übrigens auch bedeuten, es mit der häuslichen Hygiene nicht zu übertreiben. Denn wie Spahl erwähnt, ist heutzutage auch unser Immunsystem in gewisser Weise unterfordert. Natürlich lebte der Mensch früher in sehr viel weniger hygienischen Verhältnissen. "Unser Körper ist daher", gibt Spahl zu bedenken, "auf die Koexistenz mit allerlei Parasiten ausgelegt. Dass diese heute fehlen, weil wir in der Lage sind, uns vor ihnen zu schützen, und dass wir auch weniger mit vielen anderen Mikroorganismen zu tun haben, stellt unser Immunsystem vor Probleme." Konkret, so Spahl, "kommt es häufiger zu Über- oder Fehlreaktionen des Immunsystems und damit zu Allergien und Autoimmunerkrankungen."
Globalisierung lässt Stärken schwächeln
Wer einwendet, dass bei Erkrankungen mitunter auch die menschliche Psyche eine wichtige Rolle spielt, dem sei gesagt, dass auch diese – folgen wir den Evolutionsmedizinern – noch ganz der Steinzeit verhaftet ist. Wir leben in großen Gruppen in der Großstadt, oft genug kennen wir die Menschen um uns herum nicht. "Diese Anonymität ist neu", sagt Verbeek. Sie führt zu den bekannten Problemen wie Einsamkeit und Depression.

Der heutige Mensch lebt in unüberschaubaren Gruppen. Da noch die eigene Besonderheit zu erkennen, fällt schwer.
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Doch die unüberschaubaren Gruppen, das dichte Zusammenleben mit vielen und unbekannten Menschen, hat noch andere Folgen, wie die Ärztin erläutert: "Wir stehen nicht mehr nur mit Menschen, die wir persönlich kennen, im Wettbewerb - zum Beispiel bei der Partnersuche. Der Wettbewerb ist praktisch globalisiert worden." Diese Entwicklung sieht Verbeek "als enorme Herausforderung für das Gehirn." "Jeder Mensch", fügt sie hinzu, "ist für sich etwas Besonderes und in dieser Kombination in irgendetwas besser als die anderen. Daraus zieht er ein Ego, und er hat seinen Platz in der Gesellschaft. Doch je globalisierter der Wettbewerb abläuft, umso unüberschaubarer ist er, und umso schwieriger ist es auch, selbst die eigenen Stärken zu erkennen. Auch von außen werden diese nicht mehr so anerkannt." Starker Konkurrenzdruck, einhergehend mit ausgewachsenen Identitätskrisen, sind somit programmiert.
Ein Hamster, der ins Aquarium will
In zunehmendem Maße scheint sich der Mensch eine Umgebung zu basteln, die ihm nicht gut tut und die nicht zu ihm passt. Das erschöpft sich nicht in Megacitys, Fast Food und Computerarbeit. Verbeek bringt hier auch die Kernkraft ins Spiel: "Wir leben in einem Atomzeitalter, und das ist ein Stück weit absurd, denn wir haben kein Wahrnehmungsorgan für Radioaktivität. Wir brauchen Detektionsgeräte, um die Gefahr frühzeitig und sicher erkennen zu können. Und trotzdem schaffen wir uns eine Umwelt, in der wir mit Strahlung zu tun haben. Da kann man durchaus den Eindruck gewinnen, dass sich die Menschen wie ein domestizierter Hamster verhalten, der sich entscheidet, lieber in einem Aquarium zu wohnen."

Warum schaffen wir uns eine Umgebung, für die wir nicht ausgestattet sind?
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Vor diesem Hintergrund drängt sich die Frage auf, warum der Mensch mit einem Gehirn ausgestattet ist, das selbstschädigendes Denken und selbstzerstörerische Konzepte ermöglicht. "Letzten Endes", hält Verbeek dem entgegen, "ist der Mensch als Säugetier enorm erfolgreich. Er kann sowohl in der Wüste leben als auch im nordpolaren Eis. Für ein Säugetier ist das eine enorme Leistung. Aber es gibt eben auch Sackgassen in der Evolution, und manchmal fragt man sich beim Menschen: 'Na, wo geht's denn hin?'"
Quelle: ntv.de