Bücher

Die 1964er sind Glückskinder Deutschlands geburtenstärkstes Jahr

Ost- und Westdeutschland schafften zusammen den Rekord.

Ost- und Westdeutschland schafften zusammen den Rekord.

(Foto: imago stock&people)

Das Lebensspiel der 1964 Geborenen heißt Reise nach Jerusalem: weil immer mehr Menschen als Stühle da waren. Wer 1964 auf die Welt kam, gehört zum geburtenstärksten Jahrgang, den Deutschland je hatte. Das war anstrengend, aber auch schön.

1964 hatten Hebammen in Deutschland alle Hände voll zu tun. Durchschnittlich 3718 Babys kamen an jedem Tag dieses Jahres zwischen Stralsund und Garmisch-Partenkirchen zur Welt. Am Ende summierte sich der Jahrgang auf 1.357.304 Kinder. Jawohl, fast 1,36 Millionen. Nie wieder wurden in Deutschland in einem Jahr mehr Kinder geboren. Längst dümpeln die Zahlen bei um die 700.000 Babys im Jahr.

In diesem Jahr feiern die 1964er ihren 50. Geburtstag. Zu ihnen gehören der Boxer Henry Maske ebenso wie die Schlagersängerin Nicole, die CSU-Politikerin Ilse Aigner, der Fußballtrainer Jürgen Klinsmann, der Fernsehmoderator Johannes B. Kerner, der Schauspieler Jan-Josef Liefers oder "Bild"-Chefredakteur Kai Diekmann. Dieser Jahrgang und natürlich die ihn unmittelbar umgebenden Jahrgänge bilden 2014 das Rückgrat der Bundesrepublik. Sie besetzen einen Großteil der Jobs, sie zahlen die Steuern, die das Land am Laufen halten.

Jochen Arntz ist selbst 1965 geboren und hat über "Deutschlands stärksten Jahrgang" ein Buch geschrieben. Er teilt viele der Erfahrungen der 1964er und ist trotzdem nicht ganz einer von ihnen. An das Gefühl, irgendwie immer einer von sehr vielen zu sein, erinnert auch er sich noch sehr gut. "Mehr als 30 Kinder in einer Klasse, im Freibad eine halbe Stunde anstehen, um auf den Dreier zu kommen, und gemeinsam mit sehr vielen anderen nach einer Lehrstelle oder einem Studienplatz zu suchen - das verbindet nicht nur 1964er, sondern alle Jahrgänge vom Anfang bis zum Ende der 1960er-Jahre."

Voller Tisch und Sendeschluss

Arntz' Buch ist in der Süddeutsche Zeitung Edition erschienen.

Arntz' Buch ist in der Süddeutsche Zeitung Edition erschienen.

Einzelkinder gibt es unter den 1964ern praktisch nicht, kaum jemand wächst ohne Geschwister auf. Die Esstische sind rundherum besetzt, Mädchen heißen Sabine, Susanne und Martina, Jungen Thomas, Andreas oder Michael. "Was mich überrascht hat, war, wie gut es den meisten gefallen hat, dass sie so viele waren. Dieses Massenerlebnis fühlte sich gut an", erzählt Arntz.

Es sind die Zeiten, in denen es in Westdeutschland drei Fernsehkanäle gibt, auf denen "Bonanza" und die "Waltons", "Dalli Dalli" und "Die Sendung mit der Maus" laufen. Die Ostdeutschen kommen mit einem Fernsehprogramm aus und schauen dazu natürlich noch die Westsender. Der Sendeschluss ist noch das natürliche Ende eines Fernsehabends. Der Kinderalltag dieser Generation ist geprägt von Spielen im Freien, Fahrradfahren oder Rollschuhlaufen mit den Freunden, nach Hause müssen alle erst bei Einbruch der Dunkelheit. Eltern verfolgen die Entwicklung ihrer Kinder mit großer Gelassenheit und führen noch ihr eigenes Leben. Der Zweite Weltkrieg ist lange genug vorbei, praktisch herrscht Vollbeschäftigung, es geht aufwärts.

"Die Kinder, die in diese Zeit hineingeboren wurden, haben deshalb eine große Zuversicht eingeimpft bekommen, auch wenn das für sie selber alles schon wieder ganz anders aussah", meint Arntz. Insofern basiert das angenehme Lebensgefühl, das viele Babyboomer beschreiben, auf einer Täuschung. Gewirkt hat es trotzdem, auch als die 1964er Ende der 1970er, Anfang der 1980er massenhaft auf den Arbeitsmarkt drängen und in Westdeutschland das garstige Wort von der Akademikerschwemme die Runde macht. Bis heute scheint die 1964er eine gewisse Gelassenheit zu begleiten, vielleicht auch in dem Bewusstsein, dass sie ja immerhin auch eine nennenswerte Anzahl Wählerinnen und Wähler sind.

Die- und jenseits der Elbe

Arntz, der im Rheinland aufwuchs, schreibt eher aus westdeutscher Perspektive über den gesamtdeutschen Rekordjahrgang. Überrascht hat ihn dennoch, wie ähnlich west- und ostdeutsche 1964er sozialisiert sind. Das gehe bis hinein in den Soundtrack der Jugend, in dem auch bei manchen Westdeutschen die Puhdys und Silly mitspielten. Doch auch wenn die 1964 in Ost- oder Westdeutschland geborenen viele gemeinsame persönliche Erinnerungen haben, gelegentlich wird die Mauer, die Deutschland in diesen Jahren teilte, auch in den Biografien deutlich.

Interrail oder Jugendtourist ist dabei noch die unwichtigere Frage. "Diejenigen, die 1964 in der DDR geboren wurden, haben genau die Hälfte ihres Lebens gelebt, als die Mauer fiel. 1989 waren sie 25 Jahre alt und heute sind sie 50. Für sie haben sich ganz andere Umbrüche ergeben, aber auch Chancen aufgetan, als für die Westgeneration." Sie waren jung genug, um im wiedervereinigten Deutschland ihren Platz zu finden und vielen wurde wie Jan-Josef Liefers klar, "dass die Welt nicht nur Osten und Westen sein muss".

Doch auch für viele Westdeutsche ergaben sich aus dem Mauerfall erst wirklich Lebenschancen. Plötzlich gibt es Möglichkeiten jenseits von Arbeitslosigkeit oder Taxifahrer. "Beispielsweise gab es eine Juristenschwemme in Westdeutschland, und in Ostdeutschland wurden plötzlich jede Menge Richter, Rechtsanwälte und Staatsanwälte gebraucht." Dass sich die geburtenstarken Jahrgänge Ost- und Westdeutschlands nach der Wende Konkurrenz machten, darf man schon wieder zu den gemeinsamen Erfahrungen zählen.

Wenn zu den zahlreichen Geburtstagspartys, mit denen in diesem Jahr die runde 50 begangen wird, schon Enkel kommen, feiert wahrscheinlich ein gebürtiger Ostdeutscher. Die meisten früheren DDR-Bürger bekamen ihre Kinder früh und sind nun auch mit den Enkeln früher dran. Die Westgeneration tendierte hingegen zum späten Kind. Das hat zum einen mit den längeren, oft akademischen, Ausbildungswegen zu tun. Es hat aber auch damit zu tun, dass sich vor allem Frauen mit einem Universitätsabschluss kaum in die Rolle der nachwuchsbetreuenden Hausfrau fügen mochten. So kann man es kaum anders als paradox nennen, dass die Kinder mit den meisten Geschwistern und der freiesten Kindheit heute den Tag ihres einzigen Kindes bis ins Detail durchplanen und seinen Standort jederzeit per Smartphone bestimmen können. 

Die jungen Alten

Vorreiter sind die 64er dafür in einem anderen Punkt. Sie werden der erste Jahrgang sein, der für seine Rente bis ins 67. Lebensjahr hinein arbeiten muss. Dann werden aus den Babyboomern die Rentenboomer. Welche Renten die 64er erwarten können und wer die dann in die Kasse des Generationenvertrags einzahlt, beschäftigt bereits die Experten. Arntz vermutet, dass viele von ihnen weiter arbeiten werden. "Aus Einsicht in die Notwendigkeit, aber auch weil sie es gern wollen." Und weil sie fit genug dafür sind.

Denn die 64er sind Glückskinder, gut ausgebildet und meist auch halbwegs gut situiert. Sie haben selbst keinen Krieg erlebt, keine materielle Not, statt dessen ein eher sorgenfreies Leben. "Jemand, der 1964 50 wurde, ist 1914 geboren und hat beide Weltkriege erlebt, ein faschistisches System, Hunger, Trümmer, den schwierigen Wiederaufbau, das sind ganz andere Leben. Insofern macht es einen Riesen-Unterschied und ist ein Riesen-Glück, diese 50 Jahre später geboren zu sein." Ein Glück, das die 1964er mit vielen teilen.

"1964" bei Amazon bestellen

Quelle: ntv.de

Newsletter
Ich möchte gerne Nachrichten und redaktionelle Artikel von der n-tv Nachrichtenfernsehen GmbH per E-Mail erhalten.
Nicht mehr anzeigen