"Meine Welt schmilzt" Auf Spitzbergen ist nichts mehr, wie es war
30.03.2021, 18:19 Uhr
Line Nagell Ylvisåker lebt mit ihrem Mann und ihren zwei kleinen Kindern in Longyearbyen.
(Foto: Ragnhild Utne)
Es regnet statt zu frieren, Lawinen werden zur tödlichen Gefahr und überall muss man damit rechnen, hungrigen Eisbären zu begegnen. Wie dramatisch der Klimawandel das Leben auf Spitzbergen verändert, davon berichtet die Norwegerin Line Nagell Ylvisåker.
Am 19. Dezember 2015 lösen sich 5000 Tonnen Schnee vom Berg Sukkertoppen und donnern auf Longyearbyen herab. Die Schneemassen walzen sich über etliche Häuser in dem Hauptort von Spitzbergen und verschieben sie bis zu 80 Meter weit. Mehrere Menschen werden verschüttet, ein zwei Jahre altes Mädchen und ein Familienvater überleben die Katastrophe nicht.

Bei dem Lawinenunglück 2015 wurden etliche der bunten "Spisshus" ineinandergeschoben.
(Foto: Geir Barstein/Svalbardposten)
In den folgenden Jahren bekommt der Ort weitere Schnee- und Gerölllawinen ab. Immer wieder müssen Menschen bei unberechenbarem Wetter aus ihren Häusern evakuiert werden. Lange war Spitzbergen für seine Trockenheit bekannt, die meisten Gebäude hatten keine Regenrinne, weil sie keine brauchten. Aber als Folge der Erderwärmung regnet es immer häufiger und zwar so stark, dass der Boden aufweicht und der Schnee zu schwerem und gefährlichem Matsch wird.
Was der Klimawandel und die damit einhergehenden Gefahren für die Menschen auf Spitzbergen bedeuten, davon erzählt Line Nagell Ylvisåker in ihrem Buch "Meine Welt schmilzt. Wie das Klima mein Dorf verwandelt". Die norwegische Journalistin lebt zusammen mit ihrem Mann und ihren zwei kleinen Kindern in dem 2000-Einwohner-Ort Longyearbyen. Das Mädchen, das bei dem Lawinenunglück ums Leben kam, war eine Freundin ihrer Tochter.
Als Ylvisåker 2006 nach Spitzbergen kam, hatten Forscher gerade vorausgesagt, dass die Temperaturen auf der Inselgruppe innerhalb der nächsten 100 Jahre um 8 Grad steigen könnten. Doch die düstere Prognose beschäftigte sie damals nicht. "Ich dachte nicht darüber nach, wenn ich auf dem Schneemobil durch die Gegend sauste. Es war so schön, so wild, herausfordernd und echt", erklärt Ylvisåker. Doch dann werden ihr die Veränderungen der Natur langsam unheimlich. "Was zum Teufel passiert hier eigentlich?", fragt sie sich immer häufiger.
Arktis erwärmt sich schneller
Spitzbergen liegt im Arktischen Ozean etwa 1300 Kilometer vom Nordpol entfernt, ist zu 60 Prozent von Gletschern bedeckt und gehört weltweit zu den nördlichsten bewohnten Gebieten. Die Temperaturen liegen die meiste Zeit des Jahres im Minusbereich, doch seit den 90er-Jahren steigen sie stetig an. Jüngste Zahlen des Norwegischen Meteorologischen Instituts belegen, dass der vergangene Sommer alle bisherigen Höchstwerte übertroffen hat: Im Juli wurde in Longyearbyen mit 21,7 Grad ein neuer Rekord gemessen. Üblicherweise zeigt das Thermometer in diesem wärmsten Monat des Jahres zwischen 5 und 8 Grad an. Forschern zufolge schreitet die Klimaerwärmung in der Arktis doppelt so schnell voran wie im Rest der Welt.

Bauarbeiter montieren im Sommer 2018 Stützzäune gegen Lawinen und Erdrutsche. Die Häuser, die 2015 zerstört wurden, sind inzwischen abgerissen.
(Foto: Line Nagell Ylvisåker)
Den Temperaturanstieg beobachtet auch Ylvisåker. Im Frühjahr schmilzt der Schnee an den Küsten immer schneller. Vor Jahren waren noch im März und April Werte bis minus 25 Grad normal, heute sinken sie selten unter minus 15. Die Journalistin beginnt, sich intensiv mit dem Klima auseinanderzusetzen. Sie trifft eine Meteorologin, die immer mehr Winterunwetter registriert, und einen Trapper, der meint, dass es irgendwann schon wieder kälter werden wird. Mit Forschern spricht sie über die Gletscherschmelze, die dafür sorgt, dass die Polarnacht inzwischen schon am 6. statt am 8. März endet. Und sie schaut den Bauarbeitern zu, die nach dem Unglück von 2015 Schneezäune installieren, die Longyearbyen vor weiteren Lawinen schützen sollen.
Nie ohne Gewehr
Einmal begleitet Ylvisåker einen Ozeanografie-Professor auf einem Schiff in den größten Fjord von Spitzbergen, um mehr über das Polarmeer zu lernen. Früher fuhren der Professor und seine Studenten mit dem Schneemobil über das Eis und bohrten dort Löcher hinein, durch die sie ihre Messgeräte ins Wasser lassen konnten. Das ist inzwischen nicht mehr nötig, denn der Fjord friert schon lange nicht mehr zu.

Eisbärspuren im Schnee: Ylvisåker hat ihr Gewehr geschultert und macht sich mit ihren Kindern schnell auf den Rückweg zur Hütte.
(Foto: Trond Håvelsrud)
Weil das Meereis zurückgeht, sind die Menschen auf Spitzbergen auch mit einer tierischen Bedrohung konfrontiert: Sie müssen damit rechnen, hungrigen Eisbären zu begegnen. Da die kaum noch Robben auf den Eisschollen jagen können, brechen einige von ihnen in einsam gelegenen Hütten ein.
Wenn Ylvisåker und ihr Mann sich mit den Kindern in die Wildnis wagen, haben sie immer ein Gewehr und eine Signalpistole dabei. Die Signalpistole müssen sie tatsächlich einmal abschießen, weil ihnen eine Bärin mit zwei Jungen gefährlich nahe kommt. Sogar auf den Straßen von Longyearbyen sind hin und wieder Eisbären unterwegs. In der Regel gehen die Zusammentreffen von Mensch und Tier glimpflich aus. Im Sommer 2020 aber kam ein Mann auf dem örtlichen Campingplatz bei einem Eisbär-Angriff ums Leben. Es war die erste tödliche Attacke seit 2011.
Aber nicht nur das Meereis schmilzt. Sogar der Permafrost, der unter der Erdoberfläche liegt und ganzjährig gefroren ist, taut auf. Dadurch ist auch der unterirdische Saatgut-Tresor auf Spitzbergen, in dem über eine Millionen Saaten aus aller Welt für den Katastrophenfall lagern, nicht mehr sicher. Denn dass sich der Permafrost erwärmen könnte, wurde bei der Planung nicht berücksichtigt und führt zu massiven Problemen. Auch in Longyearbyen macht sich das Tauen bemerkbar: Die Straßen sind eine einzige Buckelpiste und die Holzstelzen, mit denen die Häuser im Permafrost verankert sind, verschieben sich, berichtet Ylvisåker.
Spitzbergen und sein Klimaparadox
Und dann gibt es noch das große Klimaparadox. Zwar ist Spitzbergen von der globalen Erderwärmung mit am stärksten betroffen, gleichzeitig haben die Menschen dort aber den weltweit höchsten Pro-Kopf-Ausstoß an CO2. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass auf Spitzbergen die Klimakiller Nummer 1 in Betrieb sind: Für Energie sorgen Kohlekraftwerke, die Kohle wird vor Ort abgebaut. Auch der Kreuzfahrttourismus in und um Spitzbergen ist ein wunder Punkt. Die Schiffe schleudern CO2 in die Luft und steuern zudem Gegenden an, die durch den Klimawandel zu sehr sensiblen Orten geworden sind.
Ylvisåker selbst hat nach ihren Recherchen Konsequenzen gezogen: Sie hat ihr Auto verkauft und fährt nun ein Elektro-Lastenrad, das sie auch im Winter mit Spike-bestückten Rädern problemlos von A nach B bringt. Flugreisen zu ihren Verwandten nach Norwegen unternimmt sie nun seltener und besitzt keine silberne Vielfliegerkarte mehr.
Ihre Beschäftigung mit dem Klimawandel hinterlassen bei der Journalistin zwiespältige Gefühle. Manchmal packt sie die Sorge. Dann wieder klammert sich ein Teil von ihr "an die Hoffnung, dass die Wissenschaft sich irrt. Dass die Welt noch ein Klima-Ass aus dem Ärmel zieht." Werden sie und ihre Familie Spitzbergen irgendwann verlassen? "Vielleicht", meint Ylvisåker. "Aber im Moment ist das hier unser Zuhause".
Quelle: ntv.de