Leben

Eingang zum Innersten Der große Lauschangriff im Museum Tinguely

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Ein besonderes Hörerlebnis: Am Rhein entlangspazieren mit "Il Reno" von Christina Kubisch auf den Ohren. Die Soundinstallation hat die Künstlerin für das Museum geschaffen.

Ein besonderes Hörerlebnis: Am Rhein entlangspazieren mit "Il Reno" von Christina Kubisch auf den Ohren. Die Soundinstallation hat die Künstlerin für das Museum geschaffen.

(Foto: Daniel Spehr)

Sie sind immer wach, warnen sogar im Schlaf und reagieren auf leiseste Töne: die Ohren. Mit ihnen Kunst sehen, hören und erfahren - das geht im Museum Tinguely. In Basel ist diesem sinnlichsten aller Sinnesorgane - so sehen es viele - sogar eine ganze Ausstellung gewidmet.

Da gluckert, gurgelt und gluckst es. Weiter hinten plätschert und rauscht es, dann ein Brummen, Pfeifen und Klackern. Die Besucherinnen und Besucher blicken auf den von der Sonne frühlingshaft angestrahlten Rhein. Sie hören, was sich unter der Wasseroberfläche tut. Ist das etwa das Schiff, was gerade vorbeigleitet? Und was klingt da so metallen? Mit Induktionskopfhörern auf den Ohren eröffnen sich neue Klangfenster, während die Neugierigen am Fluss entlang über eine Rampe in die Räume des Museums schlendern. Der perfekte Beginn für die überraschungsreiche Ausstellung "À bruit secret. Das Hören in der Kunst", die jetzt im Museum Tinguely in Basel zu sehen - und zu hören - ist. Laut Wissenschaft ist das Ohr sensibler, genauer und leistungsfähiger als das Auge. Der Gehörsinn kann bis zu 400.000 Töne unterscheiden.

"Das Verhältnis Mensch - Maschine, das Sinnliche machen Jean Tinguely heute so aktuell", sagt Roland Wetzel.

"Das Verhältnis Mensch - Maschine, das Sinnliche machen Jean Tinguely heute so aktuell", sagt Roland Wetzel.

(Foto: Marc Zimmermann)

Es ist die vierte von fünf Themenausstellungen, die sich experimentell in die Welt der menschlichen Sinne begibt. Nach Riechen, Tasten und Geschmack jetzt das Hören - in zwei Jahren folgt das Sehen. "Eine Ausstellung wie diese, die Kunst aus 100 Jahren mit 25 verschiedenen Künstlerinnen und Künstlern zeigt, braucht gut zwei Jahre Vorbereitungszeit", erläutert Roland Wetzel, Direktor des Hauses ntv.de. "Von den niederen Sinnen haben wir uns vorgetastet zum Hörsinn. Der Sehsinn ist ja sowieso in einem Museum verankert. Und wenn wir dann noch weiter machen wollen, könnten wir das Synästhetische und Übersinnliche abhandeln", lacht er.

Mensch, Maschine, Klang

Aber Moment mal - Tinguely? Ist das nicht dieser Schweizer Künstler, der diese laut ratternden, absurden Skulpturen aus Schrott, Wrackteilen und Elektromotoren geschaffen hat? Jean Tinguely, 1925 geboren, bewegte sich stets auf der feinen Linie zwischen fröhlich und düster, Spaß und Aggression, Unterhaltung und Ernst, zwischen Popstar und Intellektuellem. Er hat bis zu seinem Tod 1991 die Kunstgeschichte wortwörtlich in Bewegung versetzt - mit Interaktion und Spiel. Neudeutsch wird das immersive, also erlebbare Kunst genannt. Das Museum Tinguely ist ein Haus voller Klänge und Geräusche. Eine Schau, die sich mit dem Hörsinn beschäftigt, passt perfekt hierher.

In seinem künstlerischen Schaffen war Tinguely stets den Sinnen zugewandt, sagt Roland Wetzel. "Er wollte die Menschen berühren und sie über einen sinnlichen Zugang seine Kunst erleben lassen. Ein Werk hat zum Beispiel nach Maiglöckchen geduftet. Für uns ist es wichtig, dass das zeitgenössische Programm, welches wir neben unserer permanenten Sammlungsschau zeigen, in Verbindung mit Jean Tinguely steht." Da lag die Ausstellungsreihe zu den menschlichen Sinnen quasi in der Luft. Auf 1000 Quadratmetern warten verblüffende Geräusche, die gut zu den maschinellen Klängen von Tinguely passen.

Der Sound aus der ganzen Welt

In diesem gelben VW-Bus reist das Publikum dank Emeka Ogboh direkt in die Megacity Lagos.

In diesem gelben VW-Bus reist das Publikum dank Emeka Ogboh direkt in die Megacity Lagos.

(Foto: Daniel Spehr)

Sound ist flüchtig, besteht aus Schallwellen, die sich im Raum ausbreiten und an den Wänden abprallen. Roland Wetzel hat neben Kunstgeschichte auch Musikwissenschaften studiert. Welcher Klang hat ihn in der Schau zum Hören in der Kunst am meisten inspiriert? "Klang ist nie für sich allein, man assoziiert einen Klang im Raum meistens mit Bildern im Kopf. Eine wunderbare Passage ist für mich der Spaziergang, der über drei Räume hinweg von den Straßengeräuschen in der Megacity Lagos über einen Klangteppich aus den Lofoten schließlich zu einem weltumspannenden Vogelkonzert führt."

Im Stadtraum wird dem Schweizer Kunsthistoriker Wetzel mal mehr, mal weniger bewusst, dass in den Geräuschen, die Menschen umgeben, kaum noch natürliche zu hören sind. Der täglichen Geräuschkulisse entgeht aber keiner, der hören kann. Um so mehr erfreut den 57-Jährigen das markante Rufen eines Vogels im Solitude Park vor dem Museum. Ein südafrikanisches Graulärmpärchen mischt sich in den Sound der Stadt. Sie bleiben allerdings kleine, gesichtslose Geisterwesen. Und kommen nur aus der Konserve, versteckt in den Bäumen des Parks. Das Gezwitscher ist Teil der Sonderausstellung und stimmt auf diese ein.

Das Ohr - sexuell aufgeladen

Der Hörsinn ist die Verbindung von Innen und Außen. Ohren sind verblüffend individuell und unterschiedlich geformt. Die Ohrmuschel ist der sichtbare Eingang in den komplexen Innenraum des Menschen. So was wie der aufregende verschlungene Pfad von dem Öffentlichen in den privaten Raum. In vielen Kulturen ist das Ohr zudem mit einer sexuellen Bedeutung aufgeladen. Künstlerinnen und Künstler beschäftigen sich gerne mit diesem Organ. Bilden es als Skulptur in Bronze ab, fotografieren oder malen es - mal überdimensional, mal in Originalgröße.

Welches geheime Geräusch Marcel Duchamp 1916 wohl in seinem Objekt versteckt hat? Gleichzeitig ist "À bruit secret" der Titelgeber für die Sonderausstellung für "Hören in der Kunst".

Welches geheime Geräusch Marcel Duchamp 1916 wohl in seinem Objekt versteckt hat? Gleichzeitig ist "À bruit secret" der Titelgeber für die Sonderausstellung für "Hören in der Kunst".

(Foto: Daniel Spehr)

Titelgebend für die "Hören in der Kunst"-Ausstellung ist ein über 100 Jahre altes, mysteriöses Objekt des Künstlers Marcel Duchamp. In einem Kordelknäuel verbirgt sich ein Gegenstand. Wenn man das Knäuel zusammenpressen würde, könnte man durch das entstehende Geräusch erraten, was drinsteckt. Zwei Messingplatten schützen den Inhalt jedoch vor dem Zerstören - so bleibt das Geräusch geheim: À bruit secret.

Die gezeigte Kunst animiert das Publikum eher zum Kopfkino und Nachdenken. Muss und will der Mensch wirklich alles hören, alles verstehen? Das Knäuel im Kopf wäre womöglich unerträglich. Der Planet ist eine einzige riesige Komposition, der Mensch aber hört nur einen Bruchteil. Spannend, dass auch Worte oder Farben vom Gehirn zu Tönen umgewandelt werden können. Sprache zerlegt sogar Geräusche, für die es kein Wort gibt, in lautmalerische Darstellungen.

Kritisch könnte man diese Ausstellung als Schulung für Aufmerksamkeit und genaues Hinhören bezeichnen. Es wird klar, dass sich Soundscapes in natürlich, industriell, technisch und vom Menschen gemacht einteilen. "Das war bei der Konzeption der Ausstellung früh klar", erklärt Roland Wetzel. "Die Fragen, wie Geräusche unserem Ohr zugänglich sind und welche Geräuschspektren, die man technisch übersetzt, einen Erkenntniswert haben, sind besonders interessant." So wie die unerwarteten Geräusche, die sich im Rhein verbergen und nicht alle als fröhliches Gluckern und Gurgeln entschlüsselt werden können. Sondern auch für menschliche, teilweise schädliche Eingriffe in die Umwelt stehen.

Kunsterlebnis im "Einsteigermuseum"

Ein Museum voller Geräusche und Klänge - die absurden Skulpturen von Jean Tinguely faszinieren Menschen bis heute.

Ein Museum voller Geräusche und Klänge - die absurden Skulpturen von Jean Tinguely faszinieren Menschen bis heute.

(Foto: Museum Tinguely, 2023)

Bei den permanent im Museum ausgestellten Werken von Jean Tinguely geht es ebenfalls ums Erleben. Ist die mit Sinnen erfahrbare Kunst das Geheimnis, warum die Faszination um Jean Tinguely nicht abebbt? Der Direktor sieht sein Haus als "Einsteigermuseum". Sie haben viel junges Publikum, ein Viertel der Besucherinnen und Besucher sind unter 16 Jahre, dröselt Wetzel den neugierig machenden Begriff auf. "Wir sind ein Museum, wo man wirklich Kunsterfahrungen machen kann. Teilweise erzählen uns Künstlerinnen und Künstler, mit denen wir arbeiten, dass sie selbst zur Kunst durch die Begegnung mit den Werken von Tinguely gekommen sind. Sei es hier oder anderswo auf der Welt."

Das Besondere an dem Baseler Museum ist, dass der Großteil der Werke Tinguelys per Knopfdruck aktiviert werden kann. Manche Skulpturen sind jedoch zu fragil. Sie können auf dem Smartphone via neu eingeführten QR-Codes in Aktion betrachtet werden. Apropos Aktion: Wie bitte, bringt man einen an der Wand befestigten Teppich zum Klingen? Selbst bewegen ist die Lösung, und die Hände in sanft kreisenden Bewegungen über das Stück Kunst gleiten lassen. Dabei ist es erstaunlich, was für einen Sound diese zarte Bewegung auslöst. Der Kopf produziert das entspannende Rauschen von Wellen - das perfekte Ende einer ungewöhnlichen Ausstellung über das Hören, mitten in der Stadt.

Die Ausstellung "À bruit secret. Das Hören in der Kunst" läuft bis zum 14. Mai im Museum Tinguely, Paul Sacher-Anlage 1, 4058 Basel

(Dieser Artikel wurde am Mittwoch, 12. April 2023 erstmals veröffentlicht.)

Quelle: ntv.de

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