
Dieses Mädchen fährt NICHT in die Ferien.
(Foto: IMAGO/ZUMA Wire)
Als der Krieg in der Ukraine losging, fragte ich in meinem Freundeskreis, was wir tun können. Von "keine Antwort" bis "Ich stelle mein gesamtes Haus zur Verfügung" war alles dabei. Dass die Unterstützung nicht aufhört, wenn die Menschen hier sind, war uns damals nicht klar.
Rund 5000 unbegleitete Kinder und Jugendliche sind im letzten Jahr nach ihrer Flucht aus der Ukraine und aus Syrien allein in Nordrhein-Westfalen aufgenommen worden. Unvorstellbar, was Eltern und Kinder durchgemacht haben müssen, noch immer durchmachen, um zu einer solchen Maßnahme zu greifen: Ihre halbwüchsigen Kinder allein loszuschicken. In eine unklare Situation, nur hoffend, dass alles besser ist, als zu Hause zu bleiben. Welche Gefahren da auf die Kinder zukommen - nicht auszumalen.
In unserem Fall - in dem Fall nämlich, dass Freundinnen ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt ein ganzes Haus oder eine leere Wohnung hatten - kamen alle Kinder mit ihren Müttern zusammen, kleine Kinder und Halbwüchsige. Sie kamen recht schnell nach Kriegsbeginn und sie wurden noch viel schneller an mich vermittelt. In diesem Fall durch die Organisation "BeAnAngel", nach Berlin. Wir bereiteten das leere Haus, das eigentlich zum Verkauf stand, auf mehrere Frauen mit Kindern vor, richteten es ein, mit gespendeten Dingen und gespendetem Geld.
Die Hilfsbereitschaft war überwältigend: Es kam eine Menge Geld zusammen, aber auch Sachen, die wir brauchten. Randnotiz: Leider kamen auch Sachen, die wir nicht brauchten und die auch sonst nicht zu gebrauchen waren. Die habe ich dann natürlich gleich entsorgt, so wie es die edlen Spender hätten tun sollen, weil wir ja keine Müllkippe, sondern ein gemütliches Haus für Geflüchtete einrichten wollten. Mir war von Anfang klar, dass diese Aktion eine Menge Empathie und Langmut brauchen würde. Aber eben auch Humor - und so habe ich lieber über die mir zugesandten alten Männerunterhosen und den diversen Elektroschrott gelacht, als mich zu ärgern, Schwamm drüber.
Hamster und Habseligkeiten
Wir holten die Frauen dann an verschiedenen Treffpunkten ab, einige kamen direkt in unser Haus. Wir waren sehr aufgeregt. Sicher nicht so aufgeregt wie die Frauen, die kamen, aber wir wussten, etwas rollt auf uns zu, etwas, von dem wir nicht wissen, wo es uns alle hinbringen wird. Wir wollten nur helfen. Unseren Nachbarn, die in eine schreckliche Lage gekommen waren. Unkompliziert sollte es sein. Es gab Platz für fünf bis sieben Frauen und nochmal so viele Kinder im Haus, dann noch die anderen Wohnungen und Räume, die vorübergehend zur Verfügung gestellt wurden. Die Frauen, die zu uns kamen, hatten sich zum Teil auf der Flucht bereits kennengelernt oder waren sogar als Freundinnen gestartet.
Schnell wurde klar, dass alle Frauen etwas konnten, etwas draufhatten sowieso, denn es war mutig, loszuziehen aus der Heimat, alles zurückzulassen. Sie kamen mit Handgepäck-Koffern und einer Handtasche. Hamster und Habseligkeiten mussten in der Heimat bleiben. Ich stellte mich an dem Tag abends in mein Wohnzimmer und überlegte, was ich in meinen Trolley packen würde. Ich tröstete mich mit dem Gedanken, dass wir mit mindestens einem Auto fliehen würden und etwas mehr dabeihaben könnten. Trotzdem, die Vorstellung, dass jemand mein Heim bombardiert, dass andere meine Wohnung in feindlicher Absicht betreten und zerfleddern, sich nehmen, was ihnen passt, alles plündern, was einem lieb und teuer ist und den Rest zerstören, erschütterte mich als Person, die Dinge mag und wertschätzt.
Für unsere neuen Freundinnen stellten wir Hausregeln auf - kein Alkohol, keine Zigaretten drinnen, keine Männer - das sollte das Miteinander vereinfachen, dachten wir, und ab da war jede von uns mit anderen Aufgaben betraut. Meine war die des Hausmeisters.
Wir alle wurden, und das war uns am Anfang nicht so klar, dann recht eng mit den Frauen und Kindern. Ihre Schicksale berührten uns mehr als gedacht, ihre Zukunft brannte uns unter den Nägeln. Sie sollten so schnell wie möglich Deutsch lernen, sich willkommen fühlen, ihr Leben leben, so gut es geht. Wir unternahmen ein paar Mal etwas zusammen, gingen Pizza essen, tobten mit den Kindern und ermutigten sie, sich mit anderen in der gleichen Situation zusammenzutun. Wir wussten weder, wie lange das alles dauern würde noch wie wir damit umzugehen haben.
Irgendwann ging es dann - auch für uns Helferinnen - ans Eingemachte. Wir waren erschöpft, aber wir wussten auch, dass wir weiter helfen werden. Das Schlimmste: die Ämter. Geld, Anmeldungen, Schule, Jobcenter, Deutschkurse - ein Paragrafen- und Papier-Dschungel. Dass die Mitarbeiter in den Ämtern und Behörden nicht schuld an der Misere sind, ist klar - die meisten halfen und helfen tatkräftig, wo sie können.
Das Massaker der anderen
Wir teilten uns auf, nach Fähigkeiten, und zum Glück gibt es unter meinen Freundinnen und Freunden einige Anwälte, Ärzte, Paragrafenkenner, Geduldige, ehemalige Lehrerinnen, Wegsortierer, Zuvielhaber und grundsätzlich Wohlgesinnte, die an vielen Stellen mitmachten. Im Laufe des Jahres, immer, wenn ich die Hand wieder aufhielt, um Spenden zu sammeln, gab es aber auch ein paar, die einem zu verstehen gaben, dass es jetzt ja mal gut sei. "Womit?", fragte ich und die Antwort war hier und da ein etwas genervter Blick, der besagen sollte: Jetzt sollen die auch mal wieder selber sehen, wie sie klarkommen. Kulturelle Unterschiede, Traumata, Verlustängste, bereits Verlorenes, tote Verwandte und Freunde - das sollte einfach mal keine Rolle mehr spielen, denn Deutschland wollte auch mal wieder in den Urlaub fahren.
Verständlich, nach Corona waren auch wir nicht gerade verwöhnt. Aber in einer Entfernung - sagen wir mal Berlin - Nizza ist ähnlich weit oder nah wie Berlin - Kiew - tobt ein Krieg, ein Massaker, ein vorsintflutliches Gebaren, ausgelöst von einem Mann mit einem Furz im Hirn, mit Machtfantasien und einem Anspruchsdenken, das auf den unerschütterlichen Willen und das Durchhaltevermögen eins Volkes knallte - noch immer knallt - das niemand für möglich gehalten hatte.
Der Sommer kam, der Sommer ging, die Kinder mussten in die Schule oder den Kindergarten, die Plätze, die in einem Bezirk gefunden wurden, garantierten noch lange keine Wohnungen, wenn unsere Geflüchteten umziehen sollten. Der Transfer von einem Jobcenter zum anderen wurde ein Ritt auf der Rasierklinge, Geld floss erstmal nicht weiter, Hartnäckigkeit war angesagt. Wir fanden schließlich Wohnungen für die Frauen, wir fanden Schulen, alles in unserem riesigen Netzwerk und alles wie auf dem Basar, nur ohne Bakschisch: "Hast du einen Schulplatz für mich, wenn ich dir ein Zimmer in einer WG bieten kann?" "Kennst du ein Feriencamp, das noch ein Kind nimmt, ich hab' ein Fahrrad zu viel." Ohne dieses Netzwerk, ohne die Kontakte und vor allem ohne unser stetiges gegenseitiges Unter-die-Arme-Greifen wäre das alles nicht möglich gewesen. Die Frauen wären in irgendeiner Unterkunft gelandet, wie so viele andere, die sich nun fragen müssen, wie ihre Zukunft aussieht. Ohne meine alten Freundinnen wären unsere neuen Freundinnen allein bereits im Behördendschungel verloren gegangen - denn was da abgeht, das kann man eben selbst als Ureinwohner kaum verstehen.
"Das sind unsere Kinder!"
Meine Freundinnen, sie wurden irgendwann zu Danielitschka, Birginsky, oder auch "Angel" wie Engel, haben geholfen, einige Frauen mit ihren Kindern aus der Ukraine zu retten. Ich bin ihnen sehr dankbar. Wie auch meinen Kolleginnen und Kollegen, die reichlich gegeben und auch denen, die "nur" Geld gespendet haben. Die geretteten, geflüchteten Frauen sind ebenfalls sehr dankbar, immer wieder werden wir mit Essen und selbstgemachten Dingen beschenkt.
Meine Freundinnen würden gar nicht wollen, dass ich sie über den Klee lobe, sie fanden und finden es normal, anderen zu helfen. Ist es aber nicht. Und in Anbetracht der Meldungen, in der kleine Jungs zu Paschas werden, und die "Schuld" mehrheitlich bei ihnen oder ihren Eltern, aber auf keinen Fall bei "uns", unserem System und unserer Politik gesucht werden, musste ich kurz einmal diese gute Nachricht zusammenfassen, denn eines ist klar: Wir sind kein Einzelfall, es gibt viele gute Leute, die anpacken, wenn sie sehen, dass etwas ungerecht ist oder verändert werden muss. Man muss dranbleiben.
Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Hendrik Wüst sieht Integrationsprobleme in Deutschland übrigens nicht auf Menschen mit Migrationshintergrund beschränkt. Das Phänomen der Respektlosigkeit von Kindern gegenüber Lehrkräften sei nicht nur auf einen Personenkreis begrenzt, glaubt er. Natürlich gebe es Integrationsaufgaben, und dass Kinder in der Grundschule nicht in der Lage seien, Deutsch zu verstehen, habe auch damit zu tun, dass sie schon vorher nicht ausreichend gefördert wurden. Es bringe überhaupt nichts, zu sagen, Kinder hätten "diesen oder jenen Hintergrund". "Das sind unsere Kinder", betont Wüst. "Diese Kinder sind unsere Zukunft, eine andere haben wir nicht."
Ich wünsche Ihnen ein friedliches Wochenende. Wenn Sie weiterhin helfen wollen, dann unterstützen Sie doch bitte die Organisationen "Be An Angel e.V." und "#weareallukrainians". Die tun was!
Quelle: ntv.de