Leben

Tabu Schwangerschaftsabbruch "Ich bin schwanger und möchte es nicht sein"

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Eine von vier Frauen wird im Laufe ihres Lebens eine Abtreibung erleben.

(Foto: picture alliance / NurPhoto)

Schwangerschaftsabbrüche sind immer noch ein großes Tabuthema. Und das, obwohl statistisch jede vierte Frau im Laufe ihres Lebens eine Abtreibung haben wird. Jeanne Diesteldorf will über Schwangerschaftsabbrüche sprechen, denn das ist nötig - aus mehreren Gründen.

Jeanne Diesteldorf hat lange gebraucht, um über ihren Schwangerschaftsabbruch zu sprechen. Jahre sogar. Sie suchte nach den richtigen Worten und konnte sie nicht finden. Sie wollte sich sicher genug fühlen, denn sie hatte Angst, nicht verstanden zu werden, Angst, verurteilt zu werden. Diesteldorf suchte nach Wegen, um über die Abtreibung zu sprechen. Denn "mir persönlich hat es überhaupt nicht gutgetan, etwas so Lebensveränderndes zu verheimlichen", sagt sie gegenüber ntv.de.

Diesteldorf verheimlichte, wofür sich in Deutschland jedes Jahr etwa 100.000 Frauen entscheiden. Schätzungen zufolge wird jede vierte Frau im Laufe ihres Lebens eine Schwangerschaft abbrechen - eine Quote, die es nur bei wenigen anderen medizinischen Eingriffen gibt. Und doch wird über das Thema weitgehend geschwiegen.

Das mag daran liegen, dass die Entscheidung, eine Schwangerschaft zu beenden, sehr persönlich ist. Denn auch wenn in Deutschland jedes Jahr Tausende von Frauen abtreiben, so gleicht doch kaum ein Fall dem anderen. Vielleicht ist die Schwangerschaft die Folge einer Straftat, vielleicht kann die Frau es sich nicht leisten, ein Kind aufzuziehen, oder vielleicht will sie es einfach nicht. Das zu erklären, kann schwierig sein. "Ich hatte kaum Worte dafür, eigentlich gar keine", sagt Diesteldorf über ihren Abbruch.

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Aber Diesteldorf wollte die Worte finden, um "über dieses sehr intime, sehr persönliche und gleichzeitig gesellschaftlich so relevante Thema zu sprechen", sagt sie. Und sie will anderen Frauen die gleiche Möglichkeit bieten. Genau das hat sie in ihrem Buch "(K)eine Mutter" getan. Darin erzählen zwölf Frauen von ihrer Abtreibung und versuchen, das Thema Schwangerschaftsabbruch zu enttabuisieren. Denn Schweigen hat Konsequenzen - nicht nur auf persönlicher und individueller Ebene.

Einsamkeit mit Gesellschaft

Viele Frauen fühlen sich mit dieser Entscheidung alleingelassen. Wenn alle darüber schweigen, entsteht auch der Eindruck, dass sie die Einzigen sind, die eine solche Erfahrung machen müssen. Das sind sie aber selten. Oft merken Frauen erst nach ihrer eigenen Abtreibung, dass sie viele Bekannte in ihrem Umfeld haben, die selbst abgetrieben haben - und einfach nicht darüber gesprochen haben.

Wenn niemand über seine Erfahrungen spricht, bleibt einem nur das Internet, um nach Informationen zu suchen. Dort versammeln sich oft Abtreibungsgegner - sie posten Bilder von blutigen Babys und reden den Frauen ein, dass sie sich schuldig fühlen sollen, weil sie sich in diese Lage gebracht haben. Dass auch ein Mann an der Situation beteiligt gewesen sein muss, wird selten thematisiert. "Es war verstörend. Ich habe die ganze Situation als mein Versagen empfunden", sagt Janina Müller in Diesteldorfs Buch. Sie hat selbst abgetrieben und ist eine der zwölf Frauen, die in dem Buch über ihre Erfahrungen sprechen.

Heute ist Müller wütend über ihre damalige Reaktion. Sie ist wütend, "weil ich mir eingeredet habe, ich hätte einen Fehler gemacht und müsse jetzt mit den Konsequenzen klarkommen, müsse das Problem lösen, und zwar alleine", erzählt sie im Buch. Heute, fast 20 Jahre später, wünscht sie sich, sie hätte mehr Informationen gehabt. Und sie ist fassungslos, dass sich in diesen zwei Jahrzehnten kaum etwas geändert hat.

Die Konsequenz des Schweigens

Es ist immer noch ein Tabu, über dieses Thema zu sprechen, und die Rechtslage hat sich auch nicht wesentlich verändert. Abtreibungen sind bis heute noch im Strafgesetzbuch verankert - neben Mord und Totschlag. Der Eingriff ist zwar straffrei, aber illegal und geht somit mit einer Kriminalisierung einher.

Andere Paragrafen, wie der höchst umstrittene 219a, verhindern laut Gesetzestext "Werbung für Abtreibungen". Dies führt zwar dazu, dass keine Plakate über Abtreibungsdienste aufgehängt werden dürfen - es bedeutet aber auch, dass Ärzte auf ihrer Website keine Informationen über ihr medizinisches Angebot einer Abtreibung bereitstellen dürfen. Öffentliche Listen von Ärztinnen oder Ärzten, die Abtreibungen anbieten, sind illegal. Die Ampelkoalition will das ändern. Bundesjustizminister Marco Buschmann hat diese Woche die geplante Streichung des Strafrechtsparagrafen 219a auf den Weg gebracht. Damit werde der "unhaltbare Rechtszustand" beendet, dass Ärztinnen und Ärzte, die in sachlicher Form über die von ihnen angewandte Methode informieren, verurteilt werden können.

Auch für die Frauen selbst ist der Eingriff immer noch illegal. Vor dem Eingriff müssen sie unterschreiben, dass sie sich bewusst sind, dass sie eine Straftat begehen werden. Als Christina Kunkel den Termin für ihre Abtreibung hatte, musste auch sie diesen Zettel unterschreiben. "Dir wird vor die Nase gehalten, dass du gerade etwas ganz Schlimmes tust", erzählt sie im Buch. Oft spiegele das Verhalten genau das wider - als ob gerade ein schweres Verbrechen begangen worden wäre, sagt Kunkel. Und über eine Straftat rede man eben nicht.

Die Kriminalisierung macht es auch Ärzten schwer, die Schwangerschaftsabbrüche anbieten wollen. Bekannt sind Fälle wie der von Kristina Hänel, die wegen Werbung für Schwangerschaftsabbrüche angeklagt und zu einer Geldstrafe verurteilt wurde. "Ärztinnen und Ärzte wurden angezeigt und verurteilt, wie ich. Einige davon sind jetzt vorbestraft. Das hat natürlich eine abschreckende Wirkung gehabt", sagte Hänel dem Redaktionsnetzwerk Deutschland. Auch die Ausbildung wird durch das Gesetz beeinträchtigt - denn der medizinische Eingriff eines Schwangerschaftsabbruchs gehört nicht zum Curriculum des Medizinstudiums. Wenn Ärzte diesen Eingriff anbieten wollen, müssen sie sich selbst um die Fortbildung kümmern.

All dies führt zu einer massiven Versorgungslücke, die immer größer wird. In den Großstädten Berlin, Hamburg oder Köln mag es viele Ärzte geben, die Schwangerschaftsabbrüche anbieten. Doch auf dem Land sieht die Versorgungslage anders aus. "Im Süden mit einer überwiegend katholischen Bevölkerung ist es eher schwierig, einen Termin in Kleinstädten und auf dem Land zu bekommen", sagt Christian Albring, Präsident des Berufsverbands der Frauenärzte in Deutschland, im Deutschlandfunk.

Kommt nun der Tabubruch?

Über all das wird oft nicht gesprochen - wie schwierig es sein kann, als schwangere Person Informationen zu bekommen. In Deutschland kann theoretisch jeder, der einen Schwangerschaftsabbruch wünscht, einen solchen vornehmen lassen. Anders als in Ländern wie Polen oder den USA ist der Zugang noch gewährleistet. Doch der Trend geht in eine gefährliche Richtung.

Keine Frau treibt gerne ab. Es ist eine Entscheidung, die man nie leichtfertig trifft. Aber sie wird oft einsam und alleine getroffen, weil das Thema in der Gesellschaft kaum angesprochen wird. Doch Diesteldorf ist sich sicher: Das muss sich ändern. "In einer Zeit, in der wir zwar lautstark über Gender-Sternchen und Kanzlerkandidatinnen diskutieren, reden wir viel zu selten und zu vorsichtig darüber, ob und unter welchen Bedingungen eine Frau sagen und vor allem entscheiden darf: 'Ich bin schwanger und ich möchte es nicht sein'", sagt sie.

Inzwischen hat sich Diesteldorf intensiv mit dem Thema auseinandergesetzt und dadurch häufiger mit engen Freunden und Verwandten über ihre Abtreibung gesprochen. "Es fühlt sich leichter an, befreiend und heilsam", sagt sie. Sie hat festgestellt, dass sie damit nicht alleine ist. Denn "mir haben sehr viele Frauen gespiegelt, dass es ihnen genauso geht".

Quelle: ntv.de

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