Legales Buch über illegale Szene Ist das Kunst oder muss das weggewischt werden?


Teamarbeit und Freundschaft prägen die Graffitiszene.
(Foto: Ninja K/Martha Cooper/1UP)
Was sind Graffiti - Vandalismus pur oder eine unterschätzte Kunstform? Drei Jahre lang begleitet Larissa Kikol Sprayer, darunter Anwälte, Lehrer, Köche, Deutsche-Bahn-Angestellte, Teenager, Ü-50er, auf ihren illegalen Touren. Über ihren gleichermaßen packenden wie leichten Roman "Signed" hat die Kunsthistorikerin mit ntv.de gesprochen.
Schmierereien, Zerstörung von Eigentum, Grenzüberschreitung, Vandalismus, finden die einen. Großartige Interventionen, Kunst und eine dringend benötigte Subkultur, sagen die anderen. Graffiti oder Tags auf Mauern, Häuserwänden, ICE-, S- oder U-Bahn-Zügen erhitzen von Berlin über Paris bis nach Bangkok die Gemüter. Die Sprayer wiederum leben gefährlich, ständig sind Polizei oder Security hinter ihnen her. Privatleute bedrohen sie schon mal mit Eisenstangen. Drei Jahre lang hat die Kunsthistorikerin Larissa Kikol Graffiticrews bei ihren illegalen nächtlichen Aktionen begleitet. Aus ihren Erlebnissen wurde das Buch "Signed".
Die Graffiticrews leben im Spannungsfeld zwischen zivilem Ungehorsam, Gesetzesbruch und diesem trotzigen Jetzt-erst-recht-Feeling. Das nennt Kikol "die Freiheit des Trotzdem". Die Sprayer suchen sich immer neue Wege und Zugänge, selbst wenn die Sicherheitsvorkehrungen erhöht werden und die Polizei neue Strategien anwendet. "Sie sind dennoch einen Schritt voraus und zeigen, dass man vieles unterwandern kann",sagt sie ntv.de.
Kikol ist per Zoom aus Marseille zugeschaltet, wo sie lebt und arbeitet. Die Menschen, die sie für ihr Buch getroffen hat, haben sich ein Leben jenseits des Lebenslauf-Drucks aufgebaut, um ihrer Leidenschaft, dem Malen, nachzugehen. Man brauche nicht unbedingt die Kunsthochschule, den besten Professor, so und so viele Ausstellungen - es geht auch anders.
Vom Anwalt gegengelesen
Larissa Kikol ist quer durch Deutschland gefahren. Der Beginn der Pandemie läutete auch eine Hochphase der Graffitikunst ein. "Da wurde in den einschlägigen Geschäften viel Farbe verkauft", verrät sie. Nachdem ihr eigener Lebenslauf per SMS überprüft wurde, treffen sich Teile der Künstlerkollektive 1UP-Crew und Moses & Taps mit ihr. Sie ist beim "Making-of" der Graffitimalerei unmittelbar dabei, steht selbst nachts Schmiere auf den Streifzügen. Angst erwischt zu werden hatte die 37-Jährige keine, sie habe sich eigentlich immer in Sicherheit gefühlt. Schließlich wusste sie, dass die Malaktionen akribisch, teilweise wochenlang vorbereitet werden.
Der Roman erzeugt einen erstaunlichen Energiestrom zwischen high und low. Spannungsgeladene Nächte stehen gegen gechillte Besuche im Dönerladen. Es wird viel geredet, getrunken, geraucht oder gegessen. Für die Lesenden kommt schon deswegen keine Langeweile auf, weil Größen der Kunstbranche wie Malerin Katharina Grosse oder Galerist Judy Lybke in den verschiedenen Kapiteln auftauchen.

Larissa Kikol hat drei Jahre lang Graffiticrews an den Grenzen der gestatteten Kunst begleitet.
(Foto: Moritz Krug)
Gelegentlich sendet Larissa Kikol passend zum Thema "auf Störfrequenz", gibt Denkanstöße, wird mal politisch, mal kunsthistorisch. Ihr Roman ist authentisch, "ein großer Anteil ist Reportage, nur ein kleiner Anteil Fiktion", räumt sie auf Nachfrage ein. Natürlich wurde verfremdet, verwischt, Details und Orte ausgetauscht. Ein Anwalt hat alles gegengelesen und die Graffiti-Ermittler der Republik haben das Buch sicher längst auf dem Tisch. Ob sie neue Erkenntnisse gewinnen? Der Blick hinter die Kulissen dieser von Freundschaft und Loyalität geprägten Szene liest sich erfrischend smart.
Suchtfaktor Graffiti
Das schönste Glücksgefühl ist Erleichterung, findet Kikol. "Die Erleichterung, wenn man eine Tour hinter sich hat, gut nach Hause kommt oder vielleicht noch irgendwo etwas trinkt." Die Graffiticrews versteckten sich während ihrer Ausflüge über Stunden, sind angespannt. Es gibt oft Stressmomente und Adrenalin ist immer im Spiel. "Dieses Gefühl geht durch den ganzen Körper. Ich kann den Suchtfaktor Graffiti verstehen", sagt die Autorin. Einfach nur in einem Zug zu sitzen, der komplett besprüht wurde, sei ein Erlebnis. "Ich empfehle jedem, einzusteigen. Das bunte Licht, das durch die Fenster kommt, hat etwas Erhabenes." Und der Duft von frischen Farbwolken sei berauschend.

Adrenalin und Angst sind ständige Begleiter. Graffiti ist auch der Drahtseilakt, nicht im Knast zu landen.
(Foto: musa.frames)
Am Anfang standen Interviews mit renommierten Kunstmagazinen. "Das war eine spannende Annäherung, allerdings habe ich rein kunstwissenschaftliche Texte geschrieben", sagt sie. "Ich wollte die vielen anderen Geschichten und von diesen extremen Charakteren in der Szene erzählen." Manche machen Graffiti hauptberuflich, verdienen auch als Künstler gut oder leben am Existenzminimum. Andere gehen normalen Berufen nach, sind Anwälte, Lehrer, Köche, sogar Deutsche-Bahn-Angestellte. Sie sind Teenager, Ü50, Freigeister, Einzelgänger oder Teamplayer.
Das Wort Graffiti wird seit 1850 von Altertumsforschern benutzt, als Bezeichnung für inoffiziell gekratzte Botschaften. Was sind die Themen der Sprayer heute? Sind es gesellschaftliche Inhalte oder geht es um das bloße Markieren von abstrakten Zeichen im öffentlichen Raum? Sprayen sie aus politischen Gründen? Die 1Up-Crew engagiere sich politisch, dabei muss nicht immer ihr Name auftauchen. Das gut 50 Menschen umfassende Kollektiv unterstützt Aktivisten mit Recherchen für die eigenen Aktionen, weiß Larissa Kikol. Aber auch Polizeigewalt, Bewegungen wie Black Lives Matter werden thematisiert. "Wem gehört die Stadt?" ist eine der zentralen Fragen der Autorin. "Ich glaube, dass illegale Graffiti immer politisch sind, wenn es um die Eigentumsfragen geht. Wer bestimmt, wie die Stadt aussieht, wer, wie Fassaden gestaltet werden? Für mich fängt Eigentum in der Mauer an, die Fassade muss der Öffentlichkeit zugänglich sein."
Frau Doktor Kritzel
Tatsächlich ändert sich der eigene Blick auf Graffiti mit der Lektüre des Buches. Kritzel waren für Kikol ihr Doktorarbeitsthema. "Dafür habe ich mir Kinderkritzel, aber auch Bleistiftzeichnungen von Ernst Ludwig Kirchner angeschaut. Ich habe jeden Winkel, Schlenker und Gedanken seiner nervösen Berliner Straßenzeichnungen aus dem frühen 20. Jahrhundert untersucht. Mir selbst sind dann zunächst die Tags aufgefallen." Das sind diese einfarbigen, gestischen Handschriften auf der Straße, die viele als Geschmiere abtun. Sie hingegen interessiert, welche Namen dahinterstecken und in welchem Tempo sie geschrieben wurden. Wenn "Signed" ein Tag wäre, was wäre das für einer? Larissa Kikol macht eine lange Pause, dann sagt sie lächelnd: "Trotzdem".
Hochkultur wächst ihrer Meinung nach aus Subkultur. "Das ist der wichtigste Nährboden, den wir haben. Ohne sie kommt die Kultur zum Stillstand. Nur in der Subkultur können Jugendliche ungehindert experimentieren. Man muss bereit sein, Grenzen zu verschieben und zu überschreiten", findet Kikol. Durch das Internet und die voranschreitende Gentrifizierung werde in Städten wie Berlin oder Paris viel gleichgemacht. Originalität und Qualität brauchen jedoch freie Räume sowie "das Unsaubere zum Ausprobieren, sei es das dreckige Schlagzeug im Hinterhof und die Hauswand oder den Zug für Malerei".
Postvandalismus

Hat was von optischer Täuschung: Schwarzer "Wholetrain" im Rapsfeld von Moses & Taps. Ihre Kunst wird auch in Galerien ausgestellt.
(Foto: MOSES & TAPS/TM)
Graffiti kann sehr subtil sein. Das Kollektiv Moses & Taps lackierte 2014 einen gesamten S-Bahn-Zug eine Farbnuance heller und wartete genüsslich, bis es endlich jemandem auffiel. Oder sie mauerten eine Bahn-Tür gezielt von innen zu. Verblüffte Gesichter inklusive. Ist diese simple, gewitzte Sabotage überhaupt noch Graffiti? In jedem Fall sind es genau diese illegalen Aktionen, die von Kikol in Kunstmagazinen Postvandalismus genannt werden. Dafür wird vorhandenes Material verändert oder zerstört - das machen arrivierte Künstler wie Wolf Vostell bereits seit über 50 Jahren. "Meine Sicht auf die Kunstgeschichte hat sich inzwischen sehr geändert. Warum werden illegale Kunstwerke nicht als Beispiel für Kunstrichtungen wie Performance, Fluxus, Popart oder abstrakte Malerei herangezogen? Ich jedenfalls kann Graffiti künftig nicht mehr ausklammern."
Was für eine Liebeserklärung an dieses so umstrittene Genre!
Quelle: ntv.de