Wenn nicht alles gelingt "Krisen sind wiederkehrende Normalität"
30.06.2021, 18:13 Uhr
Warum passiert mir das? Diese Frage hilft nicht weiter.
(Foto: imago/blickwinkel)
Plötzlich ist der Job weg oder der Partner, die Eltern sterben oder man wird schwer krank - das Leben zeigt sich von seiner rauen Seite. Eine Lebenskrise ist selten willkommen und doch kommt kaum jemand um sie herum. Der Psychotherapeut Holger Kuntze hat schon viele Menschen in solchen Krisen begleitet und ermutigt dazu, sich diesen Realitäten mit Tatkraft und Zuversicht zu stellen.
ntv.de: Ist ein Leben ohne größere Krisen möglich?
Holger Kuntze: Möglich ist es sicher, aber wir müssen schon akzeptieren, dass die menschliche Krise ein essenzieller Bestandteil des Lebens ist. Wir sollten auf keinen Fall so tun, als ob das Ausnahme ist. Wenn wir glauben, dass es allen anderen Menschen immer nur gut geht, setzt uns das extrem unter Zugzwang. Für die meisten Menschen ist die Krise eine immer wiederkehrende Normalität.
Welche Lebensereignisse können zu einer Krise führen?
Da hat jeder seine eigenen Baustellen. Der eine erlebt Herausforderungen am Arbeitsplatz, beispielsweise wenn Karrierepläne scheitern. Der andere gerät in eine Krise, weil er schwer erkrankt oder die Partnerschaft zu Ende geht. Jeder reagiert auf unterschiedliche Belastungen anders. Was ein Mensch entspannt wegsteckt, kann bei dem anderen eine tiefe Lebenskrise auslösen.
Was ist denn der erste Schritt mit einer Krise umzugehen?
Ich sehe eindeutig Akzeptanz als ersten Schritt, weil wir neurologisch und physiologisch in einem evolutionär verankerten Programm stecken, in dem uns der Körper und die Psyche vorgaukeln, dass wir in extremer Gefahr schweben. Und wenn wir nicht akzeptieren, dass die Krise da ist, kämpfen wir innerlich gegen uns. Der Mensch neigt aber dummerweise dazu, immer gleich nach Lösungen zu suchen, anstatt die Krise erst einmal zu akzeptieren. Und diese zu schnelle Suche nach Lösungen führt zu einem Cocktail von Gedanken, Körperchemie, von innerem und äußerem Druck, in dem die meisten dann ihre eigentlichen Krisenkompetenzen verlieren.
Was bringt in diesem Fall Akzeptanz?
Akzeptanz bringt im besten Fall, dass die inneren Autopilotprogramme weniger intensiv arbeiten und das macht uns resilienter. Wir schlafen besser und agieren überlegter. Dann können wir auch besser die Distanz beispielsweise zu einem inneren Richter herstellen, der uns sagt, das darf nicht sein. Wenn ich in einer Krise oder Herausforderung bin und die ganze Zeit höre, dass das nicht sein darf, verstärke ich die Krise. Das bringt noch mehr Stress und den brauchen wir in dieser Situation am wenigsten. Für die Lösung brauchen wir Ruhe, Gelassenheit und einen Adlerblick, um aus einer höheren Perspektive auf die Lage zu schauen.
Warum fällt es uns so schwer, zu akzeptieren, dass wir nicht alles unter Kontrolle haben?
Weil wir so nicht programmiert sind. Evolutionär ist es nicht vorgesehen, dass wir über mehrere Tage oder Wochen keine Kontrolle über unsere Lebensumstände haben. Da ging es immer nur darum, im Hier und Jetzt Gefahr von Nicht-Gefahr zu unterscheiden.
Wie vermeidet man, in diesen Gefühlen stecken zu bleiben?
Natürlich darf ich traurig und auch verzweifelt sein. Aber am Ende dürfen wir nicht vergessen, dass ebenso Handlungen und Reaktionen folgen müssen. Wir dürfen die Krise nicht einfach geschehen lassen, ohne darauf auch mit unserem Verstand bestmöglich zu reagieren. Das ist aber, nachdem ich die Krise akzeptiert habe, immer noch nicht der zweite Schritt.
Sondern?
Als Nächstes müssen wir unsere Gedanken und Worte überprüfen und eventuell in neuen Begriffen denken lernen. Viele verlieren sich in der Krise in falschen Vokabeln, obwohl wir wissen, dass wir immer die Konsequenz unseres Denkens und unserer Worte sind. Wenn man sich beispielsweise fragt: Was will das Leben gerade von mir? - ist das eine ganz andere Fragestellung als: Was will ich vom Leben? Im ersten Fall bekomme ich konstruktivere Antworten. Ähnliches gilt für Schmerz und Leid. Wenn etwas zu Ende geht, schmerzt das. Das ist in Ordnung. Wenn ich aber, um Schmerz zu vermeiden, keine Entscheidungen mehr treffe, entsteht daraus Leid. Und das kann ich durchaus vermeiden. Worte haben Kräfte, die wir nicht unterschätzen sollten.
Das klingt aber schon nach Arbeit.
Ja, das ist das Wesen der Krise, dass sie nicht von allein vergeht. Man muss akzeptieren, dass man etwas radikal anders machen muss und dass das, was jetzt geschieht, die Konsequenz aus früheren Entscheidungen ist. Das meint gar nicht, dass wir immer etwas falsch gemacht haben. Aber um eine Scheidung zu erleben, muss man sich vorher entschieden haben zu heiraten. Um einen Job zu verlieren, muss man sich irgendwann auf die Stelle beworben haben. Deshalb sollte man sich hüten, in die Schuldfalle zu tappen. Man kann sich stattdessen sagen: Ich habe mich entschlossen, in den Fluss des Lebens zu treten. Es sind Dinge schiefgegangen, die außerhalb meiner Kontrolle lagen, trotzdem war die damalige Entscheidung richtig. Auch hier machen die Worte wieder einen Unterschied - in diesem Fall ist Verantwortung der konstruktive Ansatz, während Schuld einen in der Krise nicht weiterbringt.
Kann man sich allein oder auch mithilfe eines Buches aus einer Lebenskrise herausarbeiten?
Es gibt sicher Menschen, die therapeutische Hilfe ablehnen, aber gut damit klarkommen zu lesen. Ich würde nie sagen, ein Buch ersetzt therapeutische Begleitung. Das hängt aber natürlich auch von der Krise ab. Ich bekomme viele Rückmeldungen von Leserinnen und Lesern, die das Buch einfach zum Erkenntnisgewinn gelesen und sich dadurch selbst ein bisschen besser verstanden haben. Es gibt einen wunderbaren Kalenderspruch: Die Schule des Lebens hat eine besondere Pädagogik, zuerst kommen die Prüfungen und erst danach beginnt der Unterricht. Leider haben wir in unserer Gesellschaft viel zu wenig Systeme, die uns auf Krisen und Herausforderungen vorbereiten. Denn die zentrale Frage, wenn etwas schiefläuft, ist ja: Was machen wir jetzt damit? Und nicht: Wie konnte es nur dazu kommen? Das berührt auch den Punkt von Innen- und Außenregulation, wie wir Psychologen es nennen.
Was meinen Sie damit?
Wir sind unfassbar fixiert darauf, dass Hilfe immer nur von außen kommen kann. Das lähmt uns aber oft, weil wir darauf ja wenig oder gar keinen Einfluss haben. Wenn wir aber schauen, was wir selbst tun können, haben wir sehr viele Möglichkeiten. Wir können beispielsweise trainieren, unseren inneren Richter zum Schweigen zu bringen, den viele automatisch haben, und stattdessen unseren inneren Freund aktivieren. Denn der kann uns darin bestärken, dass wir die Krise bewältigen, indem er sagt: Wir schaffen das. Vielleicht nicht jetzt und vielleicht auch nicht gleich morgen. Aber wir sind wertvoll und wir werden einen Weg finden.
Was gewinnt man, wenn man eine Krise überstanden hat?
In erster Linie die Gewissheit, auf die Herausforderungen einer Krise gute Antworten gefunden zu haben. Und doch werden die wenigsten am Ende froh sein, dass sie arbeitslos geworden sind oder sich haben scheiden lassen. Die meisten werden auch Jahre später melancholisch darauf schauen und sagen, es wäre schön gewesen, wenn es geklappt hätte. Einen Teil der Trauer und des Verlustes werden wir immer in uns tragen. Auch das müssen wir akzeptieren. Aber wir können auch mit der Trauer und der Verzweiflung sinnvolle Dinge tun. Wir müssen nicht warten, bis sie verschwinden. Man kann Freude empfinden und gleichzeitig Aspekte von Trauer in sich tragen. Daran ist nichts falsch. Im Laufe eines Lebens wird nicht alles gelingen. Gesellschaftlich wird uns das Bild vermittelt, wir seien freiheitliche und autonome Wesen. Das ist aber falsch. Wir sind Dauer- und Bindungswesen. Wir gehen in Beziehungen, weil wir dauerhaft mit anderen Menschen in Verbindung stehen möchten. Das gilt nicht nur für Paarbeziehungen, sondern beispielsweise auch für unseren Wohnort, den Arbeitsplatz oder in Freundschaften. Wenn durch äußere Einflüsse etwas zu Ende geht, sind wir alle traurig oder beschädigt und dabei herausgefordert, das bestmöglich zu verarbeiten.
Mit Holger Kuntze sprach Solveig Bach
Quelle: ntv.de