Leben

Sieben Jobs und ein Rollstuhl Kristina Vogel findet ihren neuen Weg

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Vogel will nicht mehr als Profi-Sportlerin antreten, doch sie hat viele neue Jobs gefunden.

(Foto: imago/Annegret Hilse)

Ende Juni 2018 verändert sich das Leben von Kristina Vogel für immer: Die erfolgreiche Olympiasiegerin ist nach einem Unfall querschnittgelähmt. Ein schwarzes Loch oder Groll auf ihren Unfallgegner gibt es bei der 29-Jährigen nicht. Dagegen ärgert sie sich über die Ängste der Gesellschaft.

Früher ist sie auf ihrem Rennrad mit zwei Reifen unterwegs, heute rollt Kristina Vogel auf vier Reifen durchs Leben. Am 26. Juni 2018 prallt sie beim Training in Cottbus mit einem niederländischen Radfahrer zusammen - mit etwa 60 Kilometern je Stunde. Seitdem ist die heute 29-Jährige querschnittgelähmt. Dieser Tag zerteilt das Leben der zweifachen Bahnrad-Olympiasiegerin in eine Zeit ohne und eine neue Zeit mit Rollstuhl. "Anfang des Jahres war es schon so, dass ich mal von Termin zu Termin unterwegs war, zu Hause schnell was holen wollte und dachte: Ich lasse den Rollstuhl schnell im Auto und gehe mal rein", erzählt Vogel im Interview mit n-tv.de. "Und dann: Ah Moment mal, das geht ja schlecht, ich brauche den ja wirklich. Ich musste da selbst sehr lachen."

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Vogel ist ein begehrter Interviewgast. Sie spricht offen über ihr Schicksal und gibt damit vielen anderen Menschen Mut. Ihre Perspektive ist auch als Speakerin gefragt.

(Foto: imago images / Martin Hoffmann)

Bereits 2009 hat Vogel einen schweren Unfall, bei dem ihr ein Kleintransporter die Vorfahrt nimmt. Sie hat eine leichte Gehirnblutung, bricht sich mehrere Brustwirbel, den Kiefer und die Handwurzelknochen. Außerdem verliert sie sechs Zähne, eine Glasscheibe des Autos zerschneidet ihr Gesicht, eine Gesichtshälfte bleibt anschließend taub. Die damals 18-Jährige kämpft sich zurück ins Leben, in den Leistungssport. Sie reift zur prägenden Persönlichkeit ihres Sports, gewinnt bei Olympischen Spielen zweimal Gold und einmal Bronze, sammelt elf WM-Goldmedaillen und ist damit die erfolgreichste Bahnradfahrerin aller Zeiten. Dann schlägt das Schicksal wieder zu. Noch härter als zuvor. Im vergangenen Jahr sagt sie rückblickend: "Vielleicht war 2009 die Vorbereitung auf jetzt." Bei ihrem zweiten Unfall wird das Rückenmark des siebten Brustwirbels durchtrennt - irreparabel. Dazu bekommt sie eine schwere Lungenentzündung, muss mehrfach ins künstliche Koma versetzt werden. Sie kämpft um ihr Leben - und siegt.

"Eine zwiegespaltene Gesellschaft"

Eineinhalb Jahre später führt sie ein Leben, das prall gefüllt ist mit Jobs, Ideen und Terminen. Sie hospitiert bei ihrem Arbeitgeber, der Bundespolizei, als Trainerin. Ob der Job ihr liegt, muss sie erst testen: "Sachen, die bei mir gut funktioniert haben, müssen ja nicht bei jedem gut funktionieren. Ich war immer sehr, sehr hart zu mir selber, da ist nicht jeder für geeignet." Schon im Sommer hat sie als Co-Kommentatorin beim ZDF gearbeitet, sie ist im Radsport-Weltverband aktiv, sie ist Erfurter Stadtbotschafterin, sitzt im Stadtrat ihrer Heimatstadt, hält Keynote Speeches und teilt ihr Leben mit ihren Fans bei Instagram. "Ich sehe es momentan als sehr, sehr großes Privileg an, dass aus der Scheiße - wenn ich das so sagen darf - aus der Scheiße, die am 26. Juni 2018 passiert ist, so etwas Tolles entstanden ist", sagt sie. "Ich nehme die Möglichkeiten, die kommen und gucke, ob sie passen oder nicht. Nur das Mindset ist die Grenze und das möchte ich auch 2020 beibehalten." Ihr Schicksal hat sie angenommen - und das ziemlich schnell. "Im Krankenhaus haben mir alle gesagt, dass dieses tiefe Loch noch kommen muss", sagte Vogel im Sommer. "Es kam nie."

Doch auch ihre positive Art gelangt manchmal an Grenzen. Zum Beispiel, wenn ihre persönliche Freiheit beschnitten wird. Wenn mal wieder der Mobilitätsservice der Deutschen Bahn ausfällt. Wenn sie dann nur mithilfe freundlicher Mitreisender in den Zug kommt. Oder wenn sie ein Auto auf einem Behindertenparkplatz stehen sieht: "Ich gehe davon aus, dass da jemand falsch parkt." Für sie ist das ein Riesenproblem: "Ich habe keine andere Möglichkeit, auf einem normalen Parkplatz komme ich nicht rein und raus, ich brauche die volle Öffnung der Tür."

Kristina Vogel ist bekannter als je zuvor, der Unfall hat mehr Aufmerksamkeit gebracht als all die Goldmedaillen. Sie ist präsent in den Medien, sie wird auf der Straße erkannt, sie ist für viele ein Vorbild - und muss sich doch mit Absurditäten herumärgern. Auf Reisen wird häufig ihr Lebensgefährt Michael Seidenbecher gefragt, wie es ihr geht- während sie daneben steht. Für Vogel liegt das an der Gesellschaft, die ihrer Meinung nach zu wenig Berührungspunkte mit Behinderten hat. "Es ist eine zwiegespaltene Gesellschaft, dass man zwar helfen möchte, es aber doch nicht im Fokus hat", erklärt sie im Interview. "Wenn man mehr Angriffspunkte hätte mit Menschen wie mir, Menschen mit Behinderung, hätte man keine Angst. Menschen auf einem Bürostuhl zieht man ja auch nicht einfach irgendwohin."

"Er ist die Personalisierung des Schicksals"

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Die 29-Jährige ist dem Bahnradsport trotz allem treu geblieben, aber er ist nicht mehr der wichtigste Teil ihres Lebens.

(Foto: imago/Matthias Koch)

Ziehen muss man Vogel ganz bestimmt nicht. Sie treibt sich selbst an, ihr Ehrgeiz ist auch nach der Sportkarriere groß. Selbst die Wut auf den jungen Niederländer bleibt aus. "Jetzt versetzt man sich doch mal in seine Perspektive: Wenn man beteiligt war an einem Unfall mit einer der besten Radsportlerinnen ihrer Zeit, die wegen einem querschnittgelähmt ist oder man zumindest daran beteiligt ist. Das ist doch auch eine Last." Eine halbherzige Anfrage des niederländischen Verbandes für ein Treffen hat Vogel aber auch selbst abgelehnt. "Ich habe immer gesagt: Wenn er bereit ist, bin ich es auch. Wenn ich aber tief in mich reingehe, weiß ich, ich war es noch nicht", sagt sie. "Auch wenn ich ihm nie eine Schuld gegeben habe, ist er trotzdem die Personalisierung meines Unfalls, des Schicksals und des neuen Lebens, das ich jetzt habe."

Sie hat gelernt, mit ihrem Rollstuhl umzugehen. "Ich denke auch nicht mehr drüber nach, wie ich Sachen früher konnte, sondern gucke, wie ich sie jetzt schaffen kann. Ich weiß auch, dass ich mittlerweile so gut bin, dass ich bei Sachen schon meinen Weg finde, diese machen zu können", sagt die 29-Jährige selbstbewusst. Und Kristina Vogel macht auch nach ihrem Schicksalstag, dem 26. Juni 2018, ziemlich viele Sachen.

Quelle: ntv.de

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