
Der Autor wünscht sich komplexere Botschaften auf Hungersteinen.
Es ist sehr leicht, sich auf Nebenspielplätzen zu tummeln und dort Deutschlands Titel als Weltmeister der Nebensächlichkeiten zu verteidigen. Man kann zum Beispiel Texte für "Hungersteine" erfinden. Unser Kolumnist geht beispielhaft voran.
So schwer es auch fällt: In diesen elenden Zeiten muss man versuchen, dem Schlechten Gutes abzugewinnen. Nehmen wir das Niedrigwasser in den Flüssen, das die vielen "Hungersteine" zum Vorschein brachte und unsere Kenntnis von der Vergangenheit mehrt. "Wenn du mich siehst, dann weine", steht auf einem. Jetzt wissen wir also, dass Deutschsprachige auch schon vor fünf Jahrhunderten jammerten, wenn es nicht so gut lief. Hartz IV gab es ja noch nicht.
Die Steine legen aber auch Zeugnis ab vom stärkeren Individualismus unserer Zeit. Immerhin richtete sich der Verfasser des Wein-Steins an ein unbekanntes Du in der Zukunft. Und was machen Anna und Andreas, diese Egoisten? Meißeln in ihre Quader "Anna 2018" und "Andreas 2003". Ich - bekanntlich ein tadelloser Sehr-Gutmensch, wenn auch nur nach eigener Einschätzung, diverse Leserinnen und Leser teilen das Urteil nicht - würde selbstverständlich künftige Generationen im Blick haben und der Nachwelt hinterlassen: "Wenn du mich siehst, tröste dich damit, dass wir dir keinen Atommüll hinterlassen und den Genderstern erfunden haben."
So eine Aufmunterung tut gut, wenn das Essen und der Strom ausgegangen sind. Ich könnte natürlich auch einen kitschigen Sinnspruch in den Stein hauen, wie sie dieser Tage, wo sich die Apokalypse endgültig abzeichnet, wieder viel zu lesen sind: "Der Klimawandel bringt den Menschen um die Natur - und damit wir uns um uns selbst." Seufz. Den beeindruckenden Inhalt muss man erst einmal verdauen, am besten mit Gleichgesinnten bei einem Avocado-Frühstück mit Latte Macchiato im Prenzlauer Berg, selbstverständlich unter Verzicht klimaschädlichen Furzens. Dann wird beraten, wie die Abholzung des Regenwaldes - gerne zugunsten von Avocado-Pflanzungen - gestoppt, Kaffeebauern anständig bezahlt werden könnten und ob ein Doppelpunkt, ein Sternchen oder ein Unterstrich in Berufsbezeichnungen besser geeignet ist, Fortschritt zu demonstrieren.
"You'll never walk alone"
Es ist sehr leicht, sich auf Nebenspielplätzen zu tummeln und dort Deutschlands Titel als Weltmeister der Nebensächlichkeiten zu verteidigen. Und überhaupt: Rasse geht vor Klasse, Identität steht über allem - das haben die Fortschrittlichen erkannt, weshalb sie sich nicht mehr um die Erniedrigten kümmern, sondern nur noch um die Beleidigten. Die Reform des Renten-, des Steuer- und Gesundheitssystems, allen voran der Pflege, der Investitionsstau in der Bildung und der Digitalisierung - wir schaffen das! Oder? Ich fürchte: nein. Das Geld wird nicht reichen.
Immerhin: "You'll never walk alone", teilte König Olaf der Unklare uns, seinem Volk, mit. Das wäre auch ein Spruch für einen Hungerstein. War das seine Idee? Oder haben ihm seine PR-Berater gesagt: "König Olaf, du musst auch mal Emotionen zeigen. Dann wirst du noch mehr geliebt." Ich vermute, das war der Grund, warum er sich neulich in Oslo Edvard Munchs Gemälde "Der Schrei" - eine der vier bekannten Versionen - angesehen hat, damit er einmal einen Menschen sieht, der Gefühle hat und offen zeigt.
Der Norweger malte das Werk als Folge eines Schockzustands, er hatte bei einem Abendspaziergang unter blutroter Restsonne mit Freunden nahe Oslo - never walk alone in Norway - ein angsterfülltes Brüllen in der Ferne vernommen oder bildete es sich ein. Seine Begleiter gingen jedenfalls weiter, wie er später notierte. "Und ich stand da und zitterte vor Angst und spürte, wie ein unendlicher Schrei durch die Natur ging."
Das Gemälde muss König Olaf gefallen haben, es ist ganz nach Art seiner Fortschrittskoalition. Der von purer Angst beherrschten Figur kann kein Geschlecht zugewiesen werden. Es sieht eher männlich aus, aber das ist nicht völlig klar. Vielleicht ist es ein geschlechtsloses Schreckgespenst. Vielleicht entdeckt er oder sie gerade, im falschen Körper zu sein und weiß nun nicht, was zu tun ist. Ich gebe zu, das ist wieder mal gemein von mir - ich entschuldige mich vorsorglich, damit Sie, geschätzte politische Korrekte, mir nicht mailen müssen, was ich für ein Idiot sei. Das weiß ich doch längst.
Kommunikation ist schwierig
Ich fragte einen meiner besten Freunde, was König Olaf der Unklare beim Anblick des Munch-Gemäldes wohl gedacht haben könnte. Er antwortete: "So ein Geländer könnten wir in Hamburg an der Binnenalster auch gebrauchen. Alles andere ignoriert er, wie üblich. Als er sich von dem Bild abwendete, konnte er sich schon gar nicht mehr daran erinnern. Das kommt bei ihm ja öfter vor."
Mein Freund ist sehr witzig und klug, übrigens der SPD seit Jahrzehnten zugewandt. Und nun redet er so. Das zeigt, dass es eine gehörige Portion Zweifel an den Fähigkeiten und der Redlichkeit von König Olaf gibt. "Wer Führung bei mir bestellt, der bekommt sie auch." Das hat er vor der Wahl verkündet. Und nun wabert im Volk die Ahnung, dass er das nur so gesagt hat, einfach so, weil es gut klingt. Inzwischen erwartet niemand mehr Führung von ihm, dafür haben wir ja zum Glück Robert, den Pferdeflüsterer.
Schon mehr Kommunikation wäre schön. Aber wenn König Olaf der Unklare endlich mal reden will, kommt sein Regierungssprecher daher und erklärt die Pressekonferenz für beendet. Wie kürzlich, als unser Potentat dem Palästinenserkönig noch so richtig die Meinung geigen wollte. Man sah doch, dass sein Dienstherr "mich beim Abgang von der Bühne schon kurz angeraunzt hat, dass ich das etwas schnell gemacht habe und er gerne noch etwas entgegnet hätte", sprach der Sprecher. Ich verstehe nicht, warum König Olaf nicht einfach am Pult stehen geblieben ist und gesagt hat, dass er noch was sagen will. Seltsam. Man möchte schreien vor Wut. Wie auf dem Bild von Munch.
Quelle: ntv.de