
An der Kadettenschule in Kiew ist es offenbar nicht sonderlich spannend.
(Foto: REUTERS)
Als quälend und öde empfindet der moderne Mensch das unfreiwillige Nichtstun - doch jüngste Studien beweisen: Die Langeweile ist besser als ihr Ruf. Wer sich aus dem Alltag hin und wieder wegträumt, wird kreativer und unter Umständen sogar produktiver.
Da sind Sie nun, lieber Leser - und wollen informiert werden. Womöglich sitzen Sie gerade in der U-Bahn auf dem Weg nach Hause, vielleicht auch im Wartezimmer beim Zahnarzt. Oder Sie wollen die fünf Minuten überbrücken, die der Trockner noch braucht. Sie füllen die Zeit. Grundsätzlich ist das keine schlechte Idee. Aber versuchen wir es mal mit einem Experiment: Legen Sie alles beiseite, auch das Smartphone, schalten Sie das Radio oder den Fernseher aus - und schauen Sie einen Moment lang nur aus dem Fenster. Fixieren Sie einen bestimmten Punkt. Hören Sie sich beim Denken zu. Und warten Sie ab, wohin Sie Ihr Gehirn führt …
Was soll das denn jetzt? Diese Fatzkes von der Presse immer! Denken, dass Sie einem alles erklären müssen. Pff! Ist schon hässlich, die Gardine im Nachbarsfenster. Kornblumen! Hat die Mutter im Sommer immer auf'm Küchentisch stehen. Ich muss sie mal anrufen. Aber dann geht's wieder nur um ihren Töpferkurs. Oh Gott, diese schreckliche Salatschüssel, die sie letztens mitgebracht hat! Grausam. Trotzdem sollte ich wirklich mehr Gemüse essen.
So, oder so ähnlich, könnte es endlos weitergehen. Eine Assoziation folgt der nächsten. Und mit ein bisschen Glück steht am Ende der Kette ein kreativer Gedanke, der womöglich sogar ein Problem löst, über dem Sie seit Wochen brüten. Das erzwungene Nichtstun - oder schlicht die pure Langeweile - kann durchaus produktiv sein. In der modernen Welt gilt sie dennoch als Grundübel. Wer sich langweilt, tut nichts Sinnvolles - sondern verplempert seine Zeit. Im Zweifel macht das Ganze noch nicht einmal besonders viel Spaß. "Ist das Leben nicht hundert Mal zu kurz, sich in ihm zu langweilen?", fragte schon Friedrich Nietzsche. Ebenso wie ihm ist den meisten Menschen die Vorstellung von Langeweile ein Graus.
Elektroschocks statt Langeweile
In der experimentellen Psychologie trägt das Phänomen besonders absurde Blüten: Erst vor einigen Jahren sorgte der Versuch des US-Psychologen Timothy Wilson von der University of Virginia weltweit für Aufsehen, weil sich seine Probanden lieber Elektroschocks gesetzt hatten, als 15 Minuten mit ihrer Langeweile allein zu sein. Wilson hatte Männer und Frauen unterschiedlichen Alters in einem schmucklosen Raum auf einem Stuhl platziert: Einschlafen und herumlaufen war ebenso tabu wie Werkzeuge zur Ablenkung. Vom Ergebnis waren selbst die Forscher überrascht. Jeder dritte männliche Proband und jede vierte Frau wählten den Schmerz, um die Leere zu vertreiben. Einer drückte sogar 190 Mal auf den Knopf.

Die pure Langeweile - festgehalten 1745 vom Maler William Hoghart.
(Foto: imago/United Archives International)
Den Grund dafür, dass der Mensch die Langeweile als derart belastend empfindet, vermuten Forscher in der Evolutionsgeschichte. Jeglicher Fortschritt setzte stets einen Entdeckergeist und Neugierde voraus. Wer neuen Reizen ausgesetzt ist, den belohnt das Gehirn zudem mit der Ausschüttung von Dopamin, einem Glückshormon. Dagegen kann die Langeweile - so sie denn chronisch ist - zu Trübsinn, Melancholie und sogar zu Depressionen führen. Manch einem reicht kaum das bloße Wort, um die eigene Unzufriedenheit im Zustand des Nichtstuns zu kommunizieren. "Mir ist todlangweilig!", das denkt die Starre des Sterbenden gleich mit.
Langeweile hat einen schlechten Ruf
Tatsache ist, dass das Nichtstun in der Geschichte eine beispiellose Abwertung erfahren hat - womöglich zu Unrecht. Noch im alten Rom galt der Müßiggang ("Otium") keineswegs als verlorene Zeit, sondern genoss sogar einen höheren Stellenwert als die Arbeit, die als Nicht-Muße ("Negotium") abgewertet wurde. Auch bei den Griechen stand das Nichtstun hoch im Kurs. "Wir sind tätig, damit wir Muße haben", lautet einer der bekanntesten Sinnsprüche von Aristoteles. Die Menschen sollten die Banalitäten des Alltags ablegen, in Gedanken versinken und auf diese Weise das eigene Selbst kultivieren können.
In der christlichen Lehre verkam der Müßiggang jedoch zum sprichwörtlichen "Anfang aller Laster". Die Schwelle vom Nichtstun zur Trägheit schien schnell überschritten - und letztere war als eine der sieben Todsünden nur noch schwer zu entschuldigen. Allerdings, so schreibt es auch Kierkegaard, sind Müßiggang und Langeweile keineswegs das Gleiche. "An sich ist Müßiggang durchaus nicht eine Wurzel allen Übels", so der Philosoph, "sondern im Gegenteil ein geradezu göttliches Leben, solange man sich nicht langweilt." Entscheidend ist das eigene Empfinden. Wer einen Weg findet, Langeweile (oder chronische Unterforderung) zu nutzen und vielleicht sogar zu genießen, dem kommt womöglich irgendwann eine zündende Idee …
Fallobst, Langeweile und Isaac Newton
Eine der bekanntesten Anekdoten der Geschichte besagt, dass der Mathematiker und Physiker Isaac Newton im Jahr 1660 im Garten seines Elternhauses in nordenglischen Woolthorpe unter einem Apfelbaum saß und gerade sinnierte, als sich plötzlich ein Apfel vom Baum löste und vor seinen Augen zu Boden fiel. Newton fragte sich, warum der Apfel stets senkrecht fiel - und nicht seitwärts oder aufwärts. Der Grund müsse doch sein, dass die Erde ihn anzieht, vermutete er. Eine These, die den Grundstein für seine Gravitationstheorie legte. Die Frage ist nun: Wäre Newton diese Idee auch gekommen, wenn er nicht unterm Apfelbaum gedöst, sondern vor seinen Studenten an der Universität von Cambridge unterrichtet hätte?
Es gibt viele andere Beispiele für Intellektuelle, von Albert Einstein bis René Descartes, die in einer Phase der Langeweile oder Unterforderung besonders kreativ wurden. Forscher gehen davon aus, dass dahinter das sogenannte Tagträumer-Gehirn steckt. Dabei handelt es sich um ein Netzwerk von Hirnarealen, das gerade beim Nichtstun aktiv wird - und reizunabhängiges Denken erst ermöglicht. Wer sich also gelegentlich vom Berufsalltag, Haushalt und Erziehung wegträumt, dem fällt es leichter, um die Ecke zu denken, Probleme zu lösen und zum Beispiel auch die eigene Zukunft zu planen. Allerdings gibt es einen Haken. Die digital vernetzte Welt lässt kaum noch Raum für Tatenlosigkeit. Jeder freie Moment wird mit Aktivität gefüllt.
Beispiel U-Bahn: Die morgendliche Fahrt zur Arbeit bietet in der Regel reichlich Gelegenheit zum Tagträumen - doch kaum ein Großstädter nutzt sie noch. Um sich selbst zu beschäftigen, greifen Pendler stattdessen zum Telefon, checken E-Mails oder chatten auf Whatsapp. Die Langeweile zuzulassen, fällt immer schwerer. Doch ausgerechnet die Videoplattform Youtube kann Abhilfe schaffen. Sogenannte ASMR-Clips erreichen mittlerweile Millionen Klicks - und das, obwohl sie zum Einschlafen öde sind. Youtuberin Laura Lemurex zum Beispiel tut in einem 26-minütigen Video nichts anderes, als mit Nägeln oder Pinsel über ein Mikrofon zu streichen. Von ihren Followern wird sie dafür mit Lob überhäuft.
"Sehr prickelnd", schreibt einer von ihnen. "Ich liebe es, mir das anzuschauen." So paradox es klingt: Die ASMR-Technik - kurz für "Autonomous Sensory Meridian Response" - kann dem Gestressten allein durch monotone Bewegungen und Geräusche zu einer tiefen inneren Ruhe und sogar zu einem körperlich fühlbaren Kribbeln verhelfen. Tagträume nicht ausgeschlossen. So zeigt sich, dass Langeweile sehr viel mehr kann, als uns in den Wahnsinn zu treiben. Es sei Ihnen also verziehen, wenn Sie in der U-Bahn, im Warteraum beim Zahnarzt oder während der Lektüre dieses Artikels kurz weggedöst sind - womöglich hatten Sie ja eine wirklich gute Idee.
Quelle: ntv.de