Stunde der Wahrheit Der Eurovision Showdown Contest
14.05.2016, 10:07 Uhr
Mitfavoritin und Agent Provocateur: Iveta Mukuchyan aus Armenien.
(Foto: dpa)
Der ESC-Marathon befindet sich auf der Zielgeraden. Am Abend fällt im Finale in Stockholm der allerletzte Vorhang - und das nicht nur für die Deutsche Jamie-Lee und ihre Mitbewerber im Kampf um die Gesangskrone.
Auf den ersten Blick scheint der diesjährige Eurovision Song Contest (ESC) eher in die Kategorie Friede, Freude, Eierkuchen zu fallen. Stockholm ist beschaulich, die Sonne lacht seit Tagen über der Stadt und anders als etwa Aserbaidschan vor vier Jahren ist Schweden als Austragungsort reichlich unverdächtig. Homosexuelle Ampelmännchen wie im vergangenen Jahr in Wien gibt es ebenso wenig wie eine Frau mit Bart, die zumindest in manchen osteuropäischen Staaten ordentlich zu polarisieren wusste. Und auch die Sicherheitskräfte haben anscheinend - Gott sei's gepriesen - alles im Griff, nicht zuletzt weil die Vorkehrungen im Vergleich zu früheren Contests noch einmal spürbar verschärft wurden. Die Polizei in Stockholm zeigt starke Präsenz. Ohne Körperkontrolle und Tascheninspektion lässt sich praktisch keine ESC-Party mehr besuchen.
Doch der Schein trügt. Der ESC 2016 hat es durchaus in sich. Zunächst einmal, so profan das auch klingen mag, musikalisch. Wie jedes Jahr gibt es natürlich auch diesmal wieder Interpreten und Titel, die als Top-Favoriten auf den Sieg gehandelt werden. Ganz oben auf der Liste steht der Russe Sergey Lazarev mit "You Are The Only One". Zumindest eins ist unstreitig: Seine spektakuläre Bühnenshow sucht ihresgleichen. Daneben gibt es allerdings noch eine ganze Reihe weitere Beiträge von wirklich hohem Niveau - und das nicht nur mit Blick auf die Performance.
Von Lolita-Charme bis zum Rockbrett
Aus Armenien, Australien, Bulgarien und Frankreich etwa kommen 1A-Popsongs, die locker auch in den internationalen Charts zu finden sein könnten. Israels Hovi Star schmettert mit "Made Of Stars" eine Hymne, wie man sie kaum besser auf den ESC hätte zuschneiden können. Österreichs Zoë hält mit "Loin d'ici" mit betörendem Lolita-Charme dagegen. Und Zypern schickt mit "Alter Ego" von Minus One ein Rockbrett ins Rennen, das weit mehr als nur trotziges Kontrastprogramm ist. Wenn sich die Jurys und Zuschauer nicht dazu hinreißen lassen, aus dem Eurovision Song Contest einen Eurovision Show Contest zu machen, dürfte es für Sergey Lazarev im Finale durchaus noch eng werden. Dann wäre das Rennen um die Gesangskrone so offen, wie schon lange nicht mehr.
Apropos Jurys und Zuschauer: Auch hier birgt der ESC in diesem Jahr einigen Sprengstoff. Schließlich feiert in Stockholm ein neues Abstimmungsverfahren Premiere. Anders als bisher werden die Punktevergaben der Juroren und Telefonanrufer aus den einzelnen Ländern nicht mehr kombiniert. Stattdessen werden zunächst nur die einzelnen Jury-Ergebnisse bekanntgegeben. Im Anschluss werden die Zuschauerpunkte aus allen Ländern zusammengerechnet und das Resultat - beginnend mit dem Land, das insgesamt am wenigsten Zuspruch erfahren hat - von den Moderatoren verkündet. Erst die Addition der Jury- und der Publikums-Punkte bildet das Gesamtergebnis.
Klingt kompliziert? Ist es irgendwie auch. Dennoch versprechen sich die ESC-Macher von dem Verfahren nicht nur mehr Spannung, sondern auch mehr Transparenz als in den Vorjahren. Was in der Theorie vernünftig klingt, erweist sich in der Praxis jedoch nicht selten als Rohrkrepierer. Und so muss das neue System seinen Lackmustest nun erst einmal bestehen. Und wer weiß? Vielleicht zeigt sich am Ende ja auch, dass zusätzliche Transparenz gar nicht unbedingt im Sinne der Erfinder ist. Sollten Jury- und Zuschauervoten allzu sehr auseinanderklaffen, dürfte alsbald mal wieder die althergebrachte Diskussion über Sinn und Zweck der nationalen Jurys aufflammen.
Politische Nickeligkeiten
Die russische Jury brachte sich derweil schon im Vorfeld des Finales ganz von allein in Misskredit. Ihr Mitglied Anastasia Stotskaja mimte die Spielverderberin und postete ein Video der eigentlich streng geheimen Punktevergabe durch sie und ihre Kollegen beim zweiten Halbfinale. In der Folge flog sie aus der Jury. Doch auch Armenien sorgte in Stockholm bereits für einen Eklat. Sängerin Iveta Mukuchyan, Model und Ex-Kandidatin bei "The Voice of Germany" mit der Wahlheimat Hamburg, wedelte nach ihrem Semifinal-Auftritt mit der Fahne der nicht anerkannten Republik Bergkarabach herum. Auch das ein klarer Verstoß gegen die ESC-Benimmregeln, die politische Bekenntnisse dieser Art streng untersagen. In diesem Fall blieb es jedoch bei einer Verwarnung seitens der European Broadcasting Union (EBU), die den Song Contest veranstaltet.
Doch auch daran zeigt sich: Es ist Zunder im diesjährigen ESC. Und auch die politischen Nickeligkeiten könnten im Finale noch einem neuen Höhepunkt entgegenstreben. Ein Sieg Russlands bei der Veranstaltung dürfte nicht in allen Eurovisions-Staaten auf allzu große Gegenliebe stoßen. Umgekehrt werden allerdings auch Sängerin Jamala aus der Ukraine durchaus Chancen auf ein gutes Abschneiden, wenn nicht sogar den Gewinn des Contests eingeräumt. In ihrem Lied "1944" nimmt sie - verklausuliert, aber unbestritten - Bezug auf die Vertreibung der Krimtataren während der Stalin-Herrschaft in der Sowjetunion. Angesichts der aktuellen politischen Spannungen zwischen Russland und der Ukraine für Moskau schon jetzt ein Affront - ganz zu schweigen davon, wenn Jamala wirklich gewinnen sollte.
So kommt es im ESC-Finale in mehr als nur der musikalischen Hinsicht zum Showdown. Und natürlich schlägt auch für Deutschlands Hoffnung Jamie-Lee in Stockholm die Stunde der Wahrheit. Wahr ist dabei schon jetzt, dass sie zu den gesanglich talentiertesten Teilnehmern in der Veranstaltungshalle "Globen" gehört. Das bekräftigte sie in den Generalproben noch einmal ebenso eindrucksvoll wie in einer allerletzten Pressekonferenz, bei der sie ihren Song "Ghost" erneut a cappella zum Besten gab. Doch leider ist es nicht immer die Wahrheit, die am Ende obsiegt. Egal, wie es letztlich ausgeht: Die 18-Jährige kann und darf stolz auf sich sein. Und mit ihr die ganze deutsche ESC-Gemeinde.
Quelle: ntv.de