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Was kommt als Nächstes? Rammstein has left the building

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Trotz zahlreicher Forderungen wie dieser spielen Rammstein ihre Tour weiter.

Trotz zahlreicher Forderungen wie dieser spielen Rammstein ihre Tour weiter.

(Foto: picture alliance/dpa)

Vergangenen Dienstag spielen Rammstein das letzte ihrer drei ausverkauften Konzerte im Berliner Olympiastadion. Trotz neuer Vorwürfe nahezu unbehelligt. Sänger Till Lindemann lässt sich sogar zu hämischen Songtext-Umdichtungen hinreißen. Wie soll das alles bloß weitergehen?

Nachdem es eine Weile zumindest medial ruhig um die Causa Till Lindemann war, ist diese Woche wieder Bewegung in das leidige Thema gekommen. Grund dafür waren zum einen die drei ausverkauften und nun absolvierten Rammstein-Konzerte im Berliner Olympiastadion, zum anderen weitere Vorwürfe von Frauen, die gegen den Frontmann der Band sowie nun auch deren Keyboarder Christian "Flake" Lorenz erhoben wurden.

Was Rammstein-Fans von ihren Kritikern halten ...

Was Rammstein-Fans von ihren Kritikern halten ...

(Foto: picture alliance/dpa)

Es handelt sich um Vorfälle, die bereits mehrere Jahrzehnte zurückliegen sollen. Wieder geht es um möglicherweise unangemessenes und sexuell übergriffiges Verhalten der zum damaligen Zeitpunkt immerhin auch schon fast 40-jährigen Musiker gegenüber sehr jungen weiblichen Fans. Und so ist sie erneut aufgeflammt, die bis dahin eine Weile schwelende Diskussion zwischen den einen, die keine Zweifel an den Aussagen der mutmaßlichen Opfer haben, und den anderen, die all das nicht glauben können oder wollen.

Mit Lügen zu Ruhm und Fame?

"Echte Fans" halten uneingeschränkt zu Till Lindemann, es wirkt fast wie ein Ehrenkodex und hat etwas Sektenhaftes. Sie werden nicht müde, auf den juristischen Begriff der Unschuldsvermutung zu pochen. Die sollte vor Gericht bei unklarer Faktenlage selbstverständlich oberstes Gebot sein. Und natürlich gilt diese Unschuldsvermutung auch für Till Lindemann. Gesellschaftlich gesehen hat sie hingegen eher wenig Relevanz. Privatpersonen haben durchaus das Recht, sich durch die Verdachtsberichterstattung aka "mediale Hetzjagd" ein eigenes Urteil auf moralischer Ebene zu bilden. Dennoch dient die Unschuldsvermutung Unentschlossenen auch als Ausrede, um nicht Stellung beziehen zu müssen und weiter zu Rammstein-Konzerten gehen zu können, ohne sich zu hinterfragen. Und sie scheint im Umkehrschluss für die Frauen, die ihre Stimme gegen Lindemann erheben, nicht zu gelten.

Obwohl der Öffentlichkeit ihre Namen größtenteils unbekannt sind oder sie sich andernfalls Hass und Häme ausgesetzt sehen, wird den mutmaßlichen Opfern unterstellt, für Ruhm und Geld schamlos zu lügen - womit sie sich angesichts ihrer teils eidesstattlichen Versicherungen strafbar machen würden. Welche Frau ist auf diese Weise eigentlich jemals reich und berühmt geworden? Wenn es ihnen nicht ums Geld geht, dann ist es dem Fan-Konsens nach eben Frust, weil "Till" keinen Sex mit diesen Frauen wollte, denn er kann schließlich jede haben. Etwas, das man getrost ausschließen kann. Außerdem sind Frauen auf Augenhöhe und solche, die sich ihm freiwillig für Sex anbieten, womöglich gar nicht von Interesse.

Es gibt aber auch Empathieträger, die jedes Wort der mutmaßlichen Opfer glauben, die sich trotz des massiven Gegenwinds bei diversen Investigativjournalistinnen und -journalisten zu ihren teils traumatischen Erfahrungen geäußert haben. Sie alle berichteten Ähnliches wie Shelby Lynn. Die 24-jährige Nordirin hatte den Stein Ende Mai überhaupt erst ins Rollen gebracht, als sie in den sozialen Medien nach dem Rammstein-Tourauftakt im litauischen Vilnius von Blutergüssen, einem Blackout und einem abgelehnten "Angebot", mit Lindemann in einer Show-Pause Sex zu haben, schrieb. Erschreckend übereinstimmend waren auch die Schilderungen von Youtuberin Kayla Shyx, die vom Rekrutierungssystem der Band um die Russin Alena Makeewa für die Row Zero, der sogenannten "Suck Box" unterhalb der Bühne und den speziellen Lindemann-Partys als Augenzeugin zu berichten wusste. Beide erhielten anschließend übrigens nicht wenige Morddrohungen und eine Unterlassungserklärung von Lindemanns Anwälten. Fame eben.

Fans stehen hinter Lindemann

Seither haben sich die Gemüter immer weiter erhitzt und die Fronten verhärtet. Trotz der im Raum stehenden Anschuldigungen kamen allein zu den drei Rammstein-Konzerten in Berlin jeden Abend 60.000 Fans. Sie stehen hinter ihrer Lieblingsband, ihrem gefeierten Helden Lindemann, den sie womöglich sogar bis aufs Blut gegen die "woke Bubble" verteidigen würden. Zumindest lassen ihre bisweilen aggressiven Äußerungen in den sozialen Medien diesen Schluss zu. Statt auch nur eine Sekunde darüber nachzudenken, ob an den Vorwürfen irgendetwas dran sein könnte, suchen sie die Verantwortlichen unter anderem in der Politik. So glauben sie, Lindemanns Auftritt auf dem Roten Platz in Moskau 2021 sei der Grund dafür, dass er gecancelt werden soll. Oder hat er was gegen die Klimakleber gesagt? Ach nein, das war Til Schweiger. Ja, ja, die da oben wieder. Die nächste Verschwörungstheorie lässt eben nie lange auf sich warten. Am Ende sind sowieso die Grünen schuld - an allem.

Den mutmaßlichen Opfern hingegen wird vorgeworfen, erst in den Backstage-Bereich bei Rammstein zu wollen und dann überrascht zu tun ob dem, was dort abgeht. Bändchen für die Aftershowparty angenommen und damit automatisch das Recht am eigenen Körper verwirkt. Logo! Jederzeit bereit, Till Lindemann einen Blowjob zu geben oder sich - um Thomas M. Stein zu zitieren - von ihm "beglücken" zu lassen. Klar doch! Wie können diese Frauen das nicht wissen? Hören sie denn nicht hin, wenn Lindemann Songs wie "Bück dich" oder seine Solo-Nummer "Platz eins" zum Besten gibt? Kennen sie sein Brutalo-Pornovideo zu "Till The End" etwa nicht? Diese Frauen wollen tatsächlich selbst darüber bestimmen, ob sie Drogen nehmen und mit wem sie wie Sex haben? Wo kommen wir denn da hin? Das ist doch Rock'n'Roll und war schon immer so.

Wird angesichts Lindemanns umstrittenem Gedicht "Wenn du schläfst", in dem er von Sex mit einer durch die heimliche Verabreichung von Rohypnol bewusstlosen Frau fantasiert, nach der Trennung von lyrischem Ich und Künstler verlangt, gilt das an dieser Stelle natürlich nicht. Warum bleiben Frauen eigentlich nicht gleich zu Hause? Wie sehen die überhaupt aus, was haben die an, wie präsentieren sie sich bei Instagram? Im Bikini oder mit einem Glas Alkohol in der Hand für die sozialen Medien abgelichtet - das reicht den selbsternannten Rammstein-Fan-Sheriffs locker, um Frauen der Lüge zu überführen. Die hat das doch so gewollt, und jetzt bereut sie es und jammert rum. Weiber!

Eigenverantwortung ist keine Einbahnstraße

Was ist eigentlich mit der Eigenverantwortung der teils gerade einmal volljährigen Fans? Eine häufig in den Raum geworfene Frage nicht nur von älteren Männern, sondern tragischerweise auch von Frauen, denen "sowas natürlich niemals passieren würde". Nach der Verantwortung eines 60-jährigen und somit lange erwachsenen Rockstars gegenüber 40 Jahre jüngeren, womöglich alkoholisierten und aufgeregten Anhängerinnen seiner Band fragt niemand. Dabei könnten die von ihm bevorzugten Row-Zero-Fans rein rechnerisch seine Enkeltöchter sein, und das ist sogar okay. Zumindest solange alles Weitere in beidseitigem Einvernehmen passiert. Nur dieser Eindruck ergibt sich aus den Aussagen der mutmaßlich betroffenen Frauen eher nicht. Bei Zustimmung geht es eben nicht nur um das Ob, sondern auch um das Wie.

Lindemann aber scheint für seine Fans unantastbar, und auch er selbst glaubt mehr und mehr, dass ihm nichts passieren kann. Oder wie sonst ist es zu erklären, dass die zunächst entlassene Alena Makeeva noch am selben Abend in München wieder ihren Job als "Casting Director" tat? Und woher sonst nimmt Lindemann die Chuzpe, die er jetzt in Berlin an den Tag legte?

Eigentlich ist das Schweigen der Band seit Beginn der Vorwürfe unangenehm laut. Mehr als einen unemotionalen Tweet und ein Wischi-Waschi-Insta-Post gab es nicht. Vor allem Schlagzeuger Christoph Schneiders Aus- und Einlassungen zu Lindemann waren an Widersprüchlichkeiten nicht zu überbieten. Ansonsten gab es noch diverse Schreiben von bekannten Medienrechtsanwälten. Die dürften den Musikern dazu geraten haben, sich in der Öffentlichkeit zurückzuhalten und die Kanzlei mal machen zu lassen. Davor hatte die Band in einem Instagram-Post zumindest behauptet, die Gefühle der Frauen ernst zu nehmen.

"Die Sänger vögeln nicht mehr"

Wie wenig diese Aussage wert ist, zeigte sich im Olympiastadion, als Lindemann zwei Textzeilen änderte. Aus "Die Vögel singen nicht mehr" wurde "Die Sänger vögeln nicht mehr". Lacher. Statt "Wer hat Angst vorm schwarzen Mann" sang er "Wer hat Angst vor Lindemann". Auch das fanden die Rammstein-Fans irre witzig, Humor und so. Mutmaßliche Opfer lachten nicht. Eine Verhöhnung jener Frauen, die von ihren traumatischen Erlebnissen mit Lindemann berichteten, war es allemal. Wer sie wirklich ernst nimmt und ihre "Sicht der Dinge" respektiert, spart sich schlechte Gags wie diese erstmal. Alles andere sind nur Lippenbekenntnisse und nicht die Tastatur wert, auf der sie getippt wurden.

Dass Rammstein zudem schon immer mit rechter Symbolik kokettieren und mit ihrer Leni-Riefenstahl-Ästhetik trotz angeblich ach so doppeltem Boden von links auch Anhänger aus dem rechten Spektrum hinter sich versammeln, wird von den meisten Fans ebenfalls als Blödsinn abgetan. Ein Blick auf die Liste der Konzertgänger allein in Berlin hätte gereicht, um diesen Vorwurf als wahr zu erkennen. Unter ihnen befand sich beispielsweise der bekannte "Reichsbürger" Olaf Brandt. Auch das vom Verfassungsschutz als "gesichert extremistisch" eingestufte Magazin "Compact" feiert die Band und war sogar mit einem Filmteam vor Ort. Wer dafür die Genehmigung erteilte, ist zur Stunde unklar. Doch eine öffentliche Abgrenzung seitens der Band gab es danach nicht. Und auch keine Zurechtweisung der Leute im Publikum, die bei "Deutschland" den rechten Arm gen Himmel strecken, wo der Song doch eine linke Hymne ist. Oder? Alles nur ein Missverständnis? Rammstein mögen sich selbst politisch eher links verorten, das Geld der rechten Fans für Platten, Tickets und Merch nehmen sie trotzdem gern mit.

"Bösen Zungen glaubt man nicht"

Am Dienstagabend stilisierte sich Till Lindemann dann noch schnell als Opfer, indem er vollmundig reimte: "Und denkt immer dran: Bösen Zungen glaubt man nicht. Die Wahrheit kommt doch eh ans Licht." Das wäre zumindest für die ehrliche Seite wünschenswert. Allerdings gehen Geschichten, in denen Frauen von sexuellen Übergriffen seitens Männern mit Macht und Geld berichten, oft aus wie das Hornberger Schießen. Und so ist zu befürchten, dass die ganze Wahrheit dann eben doch nicht ans Licht kommt, sondern nur die derer, die den längeren Atem haben. Es ist natürlich fraglich, was von den Vorwürfen am Ende justiziabel sein wird beziehungsweise ausreichend bewiesen werden kann. Zumindest das Rekrutierungssystem, in dem junge Frauen unter Vorspiegelung falscher Tatsachen angelockt, wie Ware behandelt, vorgeführt und ausgenutzt werden, scheint allerdings hinlänglich belegt und darf offen kritisiert werden.

Rammstein ziehen nun weiter zu ihren nächsten ausverkauften Konzerten. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass nach der Tour das Aus der Band bekannt gegeben wird oder sie sich klammheimlich vom Acker macht. Immer wieder gab es in der Vergangenheit Gerüchte, dass die Mitglieder längst keine besten Freunde mehr sind. Eher eine ertragreiche Zweckgemeinschaft. Selbst Schneider schrieb in dem bereits erwähnten Post, Lindemann habe "sich in den letzten Jahren von uns entfernt, sich seine eigene Blase erschaffen". Er berichtete weiter von eigenen Leuten, Partys und Projekten des Frontmanns. Vielleicht ist es an der Zeit, dem Projekt Rammstein ein unrühmliches, aber zumindest baldiges Ende zu bereiten und sich als Bandmitglied noch einen letzten Rest Würde zu bewahren.

Lindemanns Solo-Tour fast ausverkauft

Till Lindemann ist ab November ohnehin wieder solo auf Tour, und auch hierfür gibt es kaum noch Tickets. Wirklich geschadet haben ihm die Vorwürfe bislang finanziell wenig, von Cancel Culture kann nicht die Rede sein. Ob der 60-Jährige, der selbst dreifacher Vater ist, wohl irgendwann mal allein zu Hause ins Grübeln kommt und sich und sein Verhalten hinterfragt?

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In Berlin suchte er am vergangenen Wochenende zur Zerstreuung jedenfalls lieber den sexpositiven Fetisch-Laden KitKatClub auf. Das kam bei einigen der dortigen Mitarbeiter nicht gut an. In einer Mail von KitKat-Chefin Kirsten Krüger hieß es dazu angeblich, Lindemann kenne die Security-Mitarbeiter von früheren Besuchen. Im Club sei "niemals etwas geschehen, was fragwürdig war, oft war auch seine Tochter dabei". Ach so, na dann ...

Wie immer der Fall Lindemann ausgeht - noch ermittelt die Berliner Staatsanwaltschaft -, die Diskussion darf damit nicht zu Ende sein. Vielmehr sollte sie Anlass geben, um künftig genauer auf die Strukturen zu schauen, die es vorrangig Männern ermöglichen, ihre Macht auszuspielen, um - ebenfalls vorrangig - Frauen zu missbrauchen. Zudem muss endlich ein Umfeld geschaffen werden, in dem Opfer keine Angst mehr haben müssen, dass ihnen nicht geglaubt wird. Die in den sozialen Medien geführte Debatte um Till Lindemann hat nämlich gezeigt, wie viele Menschen Misogynie, Vicitm Blaming, Slut Shaming und Täter-Opfer-Umkehr in Ordnung finden - solange es nicht sie selbst oder ihre Liebsten betrifft.

Quelle: ntv.de

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