"Ich wäre fast gestorben" Tom Chaplin erzählt von Drogen und Erlösung
15.10.2016, 15:21 Uhr
Ehrlich und gefühlvoll singt Tom Chaplin auf seinem neuen Album über seine Sucht.
(Foto: AP)
Mit der britischen Band Keane feiert Tom Chaplin als Frontmann große Erfolge – bis er drogenabhängig wird. Seine Erlebnisse verarbeitet der Künstler auf seinem ersten Solo-Album "The Wave". Mit n-tv.de spricht er über seine Ängste, Drogen und den Tod. Aber auch darüber, wie er neue Hoffnung schöpfte.
n-tv.de: Du warst bisher als Lead Singer von Keane zu hören. "The Wave" ist jetzt dein erstes Soloalbum. Was ist jetzt anders?
Es ist viel persönlicher. Ich habe mich mit der Arbeit im Tonstudio so verbunden gefühlt, wie ich es mit "Keane" nie getan habe. Diesmal war es einfach mein erstes eigenes Projekt, das fühlte sich ganz besonders an.
Du hast alle elf Lieder auf deiner neuen Platte selbst geschrieben. War das schwer für dich, nachdem du lange Zeit gar nicht geschrieben hattest?
Die Band Keane gewann mehrere Preise in Großbritannien, darunter den Award für das beste Album.
(Foto: REUTERS)
Ja, weil Tim (Tim Rice-Oxley, Bandmitglied von Keane, Anm. d. Red.) immer die Lieder für "Keane" geschrieben hatte. Ich habe also immer die Lieder von jemand anderem gesungen. Auch wenn ich mich oft mit den Songs verbunden gefühlt habe und daran geglaubt habe, kommt es dem nicht gleich, seine selbst geschriebenen Songs zu singen. Vor allem bei "The Wave", weil es eine sehr dunkle Zeit in meinem Leben beschreibt und wie ich sie überwunden habe. Es ist ein sehr persönliches und intimes Album geworden.
Welches Lied war für dich am schwierigsten zu schreiben, vielleicht, weil es das persönlichste war?
Ich kann mich gar nicht entscheiden, weil sie alle sehr ehrlich und entblößend sind. Die eigentliche Geschichte des Albums ist ja, dass ich in großen Schwierigkeiten steckte, weil meine Drogenprobleme wieder auflebten, diesmal auf dramatische und schreckliche Art und Weise. Das ging so weit, bis ich dachte, ich werde sterben und alles in meinem Leben verlieren. Ich bin nicht gestorben, aber ich hatte die Wahl. Der einzige Weg, wieder gesund zu werden, war der, sehr offen und verletzbar zu werden.
Du warst bereits 2006 das erste Mal drogenabhängig, danach aber lange Zeit wieder clean. Was ist passiert, dass du der Sucht erneut verfallen bist?
Ich hatte 2006 ernsthafte Probleme und war in der Entzugsklinik. Aber ich habe mir selber und den Menschen um mich noch viele Jahre danach vorgemacht, es gehe mir gut. Ich habe wieder angefangen zu trinken, aber ich habe kein Koks genommen, was am meisten zerstört hatte. Von außen sah es vielleicht so aus, als ginge es mir gut, aber innerlich tat es das nicht. Das hat mich irgendwann in 2012 wieder eingeholt. Die Jahre danach wurde es wieder schlimmer, bis zu dem Punkt, an dem ich wieder jeden Tag high war.
Du sagtest, du bist in einer Nacht beinahe gestorben. Das war im Januar 2015. Wie hat dieses Erlebnis dein Leben verändert?
Das veränderte einfach alles. Es war der absolute Tiefpunkt in meiner schlimmsten Zeit. Die Menschen um mich herum mussten dabei zusehen. Meine Frau versuchte, mit mir Frieden zu schließen, statt sauer zu sein. Sie sagte, dass sie mir nicht mehr helfen könne, aber dass sie mich lieben würde. Ich glaube, sie dachte, ich würde sterben. Das wurde mir dann klar und ich hatte einfach genug – genug davon, anderen Menschen weh zu tun. Eine Zeit lang gab es mir die Illusion, mich durch die Drogen besser zu fühlen, aber irgendwann war es nur noch die Fahrt in ein Höllenloch. Das Schlimme an meiner Sucht war, dass ich manchmal bis zu fünf Tage lang auf einem Drogentrip war, ohne Schlaf immer weitergemacht habe, vor allem weggerannt bin, mein Handy ausgeschaltet habe. Ich habe ein einsames Leben geführt.
Wie spiegeln sich diese Erfahrungen auf deinem Album wider?
Diese Trips wurden immer häufiger, bis sie mein Leben waren. Irgendwann war ich so erschöpft, dass ich einfach nicht mehr konnte. Ich wollte mir und den Menschen um mich das alles nicht mehr antun. Davon handelt auch der Song "Worthless Words", er erzählt diese Geschichte. Aufzuwachen, zu denken "heute mache ich das nicht", um dann doch wieder den Dealer anzurufen und den nächsten Drogentrip zu starten. Im Song erzähle ich davon, wie ich dem Tod in die Augen geschaut habe und mir dann eine Stimme zuflüsterte: "Vorsicht, wohin du gehst" und ich dachte, "das ist meine kleines Mädchen". Das war der Moment, in dem ich dachte, ich kann so nicht weitermachen. Wenn ich morgen aufwache – falls ich morgen aufwache – muss ich mich ändern. Zum Glück tat ich das auch.
Und das sehr erfolgreich!
(lacht) Ja, ich denke auch. Es fühlt sich jedenfalls so an, diesmal ist es anders. In der Vergangenheit hatte ich immer wieder diese Momente, in denen ich dachte, alles wird gut werden … aber sie hielten nie lange an. Jetzt habe ich zum ersten Mal Frieden mit mir geschlossen.
Wolltest du Menschen, die sich an einem Tiefpunkt ihres Lebens befinden, mit deiner Musik helfen?
Ja, absolut! Ich glaube, es gibt sehr viele Menschen, denen es so ergeht. Die Welt ist ein beängstigender Ort. Ich kenne keinen Menschen, der nicht schon dunkle Zeiten erlebt hat. Das gehört zum Leben einfach dazu. Manche von uns gehen damit sehr gut um, aber viele von uns können das nicht. Das äußert sich dann in Depressionen, Angstgefühlen, Abhängigkeiten, Essstörungen oder auch einem niedrigen Selbstbewusstsein. Es gibt viele Menschen, die sich quälen. Ich hoffe mehr als alles andere, dass ich mit meiner Musik Menschen helfen kann, damit sie sich nicht alleine fühlen.
"Quicksand" ist die erste veröffentlichte Single aus "The Wave". Ist der Song an deine Tochter gerichtet?
Ja. Ich war sehr nervös, etwas für sie zu schreiben. Es ist einfach, einen kitschigen Song zu schreiben, aber ich wollte ihr vom echten Leben erzählen. Meine Erfahrung ist einfach, dass es unglaubliche Höhen und schreckliche Tiefen im Leben gibt. Das kann hart sein. Das wird sie vielleicht erleben. Die andere Seite des Liedes ist aber, dass ich ihr ein Versprechen gebe, welches ich früher, als ich Drogen nahm, nicht machen konnte: Ich werde für dich da sein, egal was passiert. "If you crash-land in the quicksand", also egal wie tief oder hart der Sturz ist, ich werde dir helfen.
Glaubst du, sie wird deine Höhen und Tiefen verstehen, wenn sie älter ist?
Ja, ich hoffe es. Es ist eine kulturelle Sache, vor allem, wo ich groß geworden bin, in der englischen oberen Mittelschicht: Wenn jemand ein emotionales Problem hat, dann wird darüber geschwiegen und so getan, als wäre es bereits besser. Ich denke einfach nicht, dass das gesund ist. Das Leben ist einfacher, wenn wir uns mit unseren Ängsten konfrontieren und sagen, was wir fühlen. Ich möchte, dass sie weiß, dass sie das kann. Und dass ich jemand bin, der ehrlich sagt, was in mir vorgeht. Ich hoffe, eines Tages wird sie das verstehen, im Moment ist sie ja erst zweieinhalb. (lacht)
Fühlst du dich zuversichtlich, wieder in die Musikindustrie zurückzukehren, obwohl sie dich beinahe zerstört hätte?
Tom Chaplin braucht keinen Riesenerfolg - er ist bereits stolz, das Album überhaupt gemacht zu haben.
Ich denke schon. Ich bin etwas vorsichtiger, denn es ist ein bisschen beängstigend, zurückzukehren. Ich habe aber hart an mir gearbeitet, um mich selbst stark genug zu machen, um damit umzugehen. Es ist tatsächlich eine Sorge von mir. Natürlich habe ich einerseits Angst, zu versagen. Schlimmer wäre aber, sollte ich einen Riesenerfolg als Solokünstler haben. Das könnte tatsächlich gefährlicher für mich werden. Das hört sich verrückt an …
Tatsächlich hattest du mit Keane einen Riesenerfolg. Fünf Alben waren Nummer eins in den Charts. Verspürst du Druck, an diesen Erfolg anzuknüpfen?
Ich weiß es nicht! Ich bin es gewohnt, musikalisch erfolgreich zu sein, so war das mit Keane. Aber nein, eigentlich nicht. Der größte Erfolg ist tatsächlich, dass ich es überhaupt geschafft habe, ein Soloalbum rauszubringen, denn es sah ganz lange so aus, als würde es nie dazu kommen. Es wäre natürlich schön, wenn es erfolgreich genug ist, damit ich davon leben kann und eine weitere Platte aufnehmen kann. Jemand hat mir mal gesagt, um ein Album zu machen, braucht es eine dünne Haut: Du musst sensibel und verletzlich sein. Um ein Album zu veröffentlichen, braucht es eine dicke Haut.
Hast du eine dicke Haut?
Das ist mein Problem – erst vor Kurzem habe ich die Kommentare unter dem Video von "Quicksand" gelesen. Eine dumme Idee. Ich weiß nicht, warum ich das getan habe, es ist, als ob ich mich für Früheres selber bestrafen wollte. Klar, es gibt viele tolle Kommentare, aber ich schaue, ob jemand etwas Scheußliches kommentiert hat. Dabei weiß ich eigentlich, dass jeder seine eigenen Probleme hat und aus vielen Gründen Negatives schreiben kann. Trotzdem habe ich Angst davor, dass man das Album hassen könnte.
Vor allem jetzt, wo es ein Soloalbum ist und man sich nicht mehr hinter seinen Bandmitgliedern verstecken kann.
(lacht) Ja, ganz genau so ist es! Das ist ein sehr guter Punkt und ich denke, das habe ich in der Vergangenheit tatsächlich getan.
Ist ein Keane-Comeback möglich?
Keine Ahnung, vielleicht! Ich lasse es auf mich zukommen und schaue, was das Leben für mich bereithält. Das genieße ich gerade. Mich interessiert Popmusik gerade sehr, ich weiß nicht, wieso. Das kann aber morgen schon wieder anders sein.
Mit Tom Chaplin sprach Vivian Kübler
Quelle: ntv.de