Horror, Sex und Drogen statt Asterix und Entenhausen "Ächz, krach, bumm" wird erwachsen
21.09.2011, 10:08 Uhr
Ausschnitt aus dem Kurzgeschichtenband "Action Sorgenkind" von Mawil.
(Foto: Mawil/Verlag Reprodukt)
Gallien war einmal. Heute erzählen Comics von mutierenden Teenagern oder den Arbeitsbedingungen in Nordkorea. Und sie heißen Graphic Novels. Oder auch nicht. Je nachdem. Der Comicverlag Reprodukt jedenfalls feiert seinen 20. Geburtstag - dank Punkrock und Internet. Und die nächste Revolution steht auch schon ins Haus.
"Raider heißt jetzt Twix … sonst ändert sich nix", hieß es einst in der Werbekampagne eines Schokoriegels, der Namen, aber nicht Inhalt wechselte. Das gleiche könnte man von Comics annehmen. Ist mittlerweile nicht überall von Graphic Novels - illustrierten Romanen - die Rede, wenn es um Bildergeschichten geht? Wird da versucht, mit einem neuen Namen einen alten Inhalt zu verkaufen? Jutta Harms vom Berliner Comicverlag Reprodukt widerspricht: "Comics sind nach wie vor der Oberbegriff." Graphic Novel sei vielmehr eine Beschreibung der Form: "Eine Graphic Novel ist eine in sich abgeschlossene, umfangreichere Erzählung", erklärt Harms.

Sex, Drogen und Horror: Ausschnitt aus der "Black Hole"-Gesamtausgabe von Charles Burns, Jahrgang 1955. Burns ging mit Simpsons-Schöpfer Matt Groening aufs College - Subversion haben beide gemein.
(Foto: Charles Burns / Verlag Reprodukt)
Ein Comic also, der sich nur im Äußeren von den herkömmlichen Comic-Heften und Alben unterscheidet. Diese erscheinen meist in Serien - man denke nur an die bekannten Beispiele Superman und Asterix -, während die Graphic Novel eben ein Einzelwerk ist. Auch darum interessieren sich Buchhandlungen und Verlage verstärkt für sie: Graphic Novels lassen sich leichter vermarkten als Serien. Und die Leser bevorzugen abgeschlossene Stoffe. Manch Comicfreund freilich kritisiert den Begriff als Werbegag, um Comics durch die Hintertür in Buchhandlungen und Feuilletons zu "schmuggeln". Graphic Novel habe einfach die Bedeutung "teurer Comic" angenommen, ächzte etwa Alan Moore ("Watchmen", "V wie Vendetta"). So werde mittlerweile "wertloser Mist" als Graphic Novel verkauft.
Dabei eignet sich der Begriff gar nicht als Qualitätsmerkmal. "Eine Graphic Novel kann vollkommen trivial sein oder ganz komplex. Bei belletristischen Romanen gibt es ja auch Rosamunde Pilcher und James Joyce", wirft Harms ein. Sie arbeitet seit Jahren für Reprodukt. Gegründet wurde der Verlag 1991 - das 20-jährige Jubiläum feiert man mit einer Ausstellung in der Berliner Galerie Neurotitan. "50 Jahre Supercomics" heißt die Schau. Die fehlenden 30 Jahre steuert die 1981 gegründete Schweizer Edition Moderne bei. Der Züricher Verlag unterstützte die Gründung von Reprodukt tatkräftig, freundschaftlich verbunden sind beide Häuser bis heute.
Punkrock und Persepolis
Bekannt ist die Edition Moderne auch für die inzwischen verfilmte Graphic Novel "Persepolis" der Iranerin Marjane Satrapi - ein Buch, das wesentlich mithalf, Comics in Deutschland ein besseres Image zu verpassen. Denn sie hatten hier immer einen schwereren Stand als etwa im benachbarten Frankreich. Zwar gab es und , und , aber diese gelten bis heute als Kindersache. Anspruchsvolle grafische Literatur hatte es da schwer und war in Buchhandlungen, wenn überhaupt, in der Kinder- oder der Humorabteilung zu finden. Und das im Lande Wilhelm Buschs, der bereits im 19. Jahrhundert wichtige Impulse für die Entwicklung der Comics gegeben hatte.

Die 1984 geborene Aisha Franz erzählt in ihrem ersten Buch "Alien" von den Schwierigkeiten der Pubertät.
(Foto: Aisha Franz/Verlag Reprodukt)
Angesichts solcher Schwierigkeiten ist es schon eine Feier wert, dass Reprodukt auf 20 Jahre Verlagsgeschichte zurückblicken kann. Zumal sich Gründer Dirk Rehm aus Eigeninteresse auf Comics stürzte, die es so noch nicht in Deutschland gab und die auch nur ein kleines Publikum ansprachen. "Reprodukt war der erste Verlag, der in Deutschland Underground- und Independent-Comics gemacht hat", erklärt Harms, die schon bei den ersten Publikationen als Übersetzerin dabei war. Es waren Geschichten, die aus dem Punkrock-Umfeld kamen. Dem entsprach auch, dass der Verlag sein erstes Büro in einem ehemals besetzten Haus fand - wo er immer noch residiert.
Den Begriff Graphic Novel benutzte man damals noch nicht. Es gab ihn aber bereits: 1978 brachte der renommierte US-Zeichner Will Eisner sein Buch heraus und bezeichnete es als Graphic Novel. Für ihn war es die Chance, bei einem Buchverlag unterzukommen, sich aber gleichzeitig in gewisser Weise von den Comic-Heften zu distanzieren, die auch in den USA ein eher triviales Image hatten. Wobei gesagt werden muss, dass etwa Hugo Pratt in Europa schon 1967 mit seiner umfangreichen "Südseeballade" über Corto Maltese die Grenzen der herkömmlichen Comics sprengte und die grafische Literatur auf ein neues Level hob.
Neues aus Birma, Shenzhen und Pjöngjang
Heute freilich verschwimmen jene Grenzen sowieso. Zeichner wie Frank Miller wechseln zwischen Einzelwerken wie "Sin City" und "300", hauchen mit ihrem Stil aber gleichzeitig etablierten Superhelden-Serien wie Batman neues Leben ein. Auch bei Reprodukt beschränkt man sich nicht: Hier werden Cartoons und lustige Comics von Fil ebenso verlegt wie Albenserien wie "Donjon" von Lewis Trondheim und Joann Sfar. Hinzu kommen umfangreiche und anspruchsvolle Werke aus der US-Independent-Szene wie "Black Hole" von Charles Burns oder die eher dokumentarischen Reportagecomics von Guy Delisle aus Birma, Shenzhen und Pjöngjang.

Craig Thompson verbindet in seinem neuen Werk "Habibi" Comic, Kalligraphie und Ornamentik.
(Foto: Craig Thompson/Verlag Reprodukt)
So wie Graphic Novels die Form herkömmlicher Comics vielfältig sprengen, kann auch der Inhalt ganz unterschiedlich sein. Der Weg zur bildenden Kunst ist da mitunter nicht weit. So erschien mit "Wandering Ghost" der Hamburger Künstlerin Moki bei Reprodukt ein Comic ganz ohne Text. Solche avantgardistisch anmutenden Werke tragen auch zum Image von Reprodukt bei - man hat nicht vergessen, dass man in der Branche lange als "der Verlag mit den schlecht gezeichneten Comics" galt. Zu den Neuerscheinungen des Herbstes gehört aber auch der mit Spannung erwartete und bereits weltweit gefeierte neue Band von . "Habibi" umfasst 670 Seiten und ist 1,7 Kilogramm schwer. Kann man das noch mit Micky Maus und Asterix vergleichen? Darf man da nicht von ernst zu nehmender Literatur sprechen - nur weil die Geschichte als Bild-Text-Kombination erzählt wird?
Keine Einbahnstraße nach Frankreich
"Das Programm ist sehr vielfältig und breit aufgestellt", sagt auch Harms. Das liege daran, dass jeder im Verlag Programmvorschläge einbringen könne, auch die eigenen Autoren und Künstler. "Wenn er sie überzeugend verteidigen kann, ist der Titel drin." Das reiche dann von Autoren, mit denen man seit Jahren zusammen arbeite, bis zu Debütalben von deutschen Zeichnerinnen und Zeichnern. Denn ein großes Augenmerk legt Reprodukt auf deutsche Nachwuchskünstler. Das sei einerseits motivierend, um als Verlag nach 20 Jahren keinen Staub anzusetzen, erklärt Harms. Andererseits könne man so etwas Eigenes entwickeln. "Verlegerische Arbeit bedeutet eben auch, dran zu bleiben, diese Talente zu begleiten."
Einerseits bietet man den Nachwuchskünstlern etwa Dramaturgie-Workshops an, in denen gemeinsam ein Stoff entwickelt wird. Andererseits verlegt Reprodukt inzwischen einmal im Jahr die Comic-Anthologie "Orang", die im Umfeld der Hochschule für angewandte Wissenschaften Hamburg von Sascha Hommer und Arne Bellstorf herausgegeben wird. Auch hier bekommen die Chance, erste kürzere Geschichten zu veröffentlichen.
Diese Förderung kann sich durchaus auszahlen. Der Berliner Mawil etwa brachte bei Reprodukt sein erstes Buch "Wir können ja Freunde bleiben" heraus - mit großem Erfolg. Inzwischen gehört er zum festen Stamm des Verlages. Seine Comics wurden in etliche Länder verkauft. Gleiches gilt für "Baby's in Black" von Arne Bellstorf und "Gift" von Barbara Yelin und Peer Meter. Auch das ist eine Folge der Verlagsarbeit: Das comicverwöhnte Frankreich lernt deutsche Comic-Künstler kennen und schätzen, der Austausch mit dem Nachbarland ist keine Einbahnstraße mehr.
Boom, Grafik und Internet
Von einem Boom für Graphic Novels mag Harms trotzdem nicht sprechen. Das sehe man auch an den Verkaufszahlen. Immerhin profitiert Reprodukt aber davon, dass etablierte Belletristik-Verlage von Kiepenheuer & Wisch über S. Fischer und Suhrkamp bis Aufbau selbst Graphic Novels herausbringen. "Die sind in den großen Buchhandlungen präsent und helfen mit, die Aufmerksamkeit und Offenheit für Comics zu entwickeln", sagt Harms. So konnten sich Comics im Laufe der Jahre in Deutschland aus der Kinderecke befreien und ein neues Publikum gewinnen. Ein weiterer Grund dafür könnte in der generellen Anerkennung von graphischen Arbeiten liegen: Wurden früher Graffiti als Schmierereien abgetan, kommt Street Art heute ins Museum. Für Harms hat das auch mit der digitalen Welt zu tun: "Wie nehmen an, dass die Offenheit, Text und Bild gleichberechtigt wahrzunehmen, mit dem Internet zu tun hat." Gerade eine junge Leserschaft, für die das Internet alltäglich sei, hätte auch keine Probleme mit Comics, sagt sie.

Ausschnitt aus "Wandering Ghost" von Moki. Das Werk kommt ohne Text aus.
(Foto: Moki / Verlag Reprodukt)
Und das verweist bereits in die Zukunft. Zwar seien Comics im Internet noch kein großes Thema, aber das Netz sei eine gute Vermarktungsplattform, sagt Harms. Und Reprodukt streckt seine Fühler langsam Richtung E-Books aus. Vor allem von der Darstellung auf Tablet-Computern zeigt sich Harms begeistert. "Wir müssen dabei aber die Möglichkeiten des neuen Mediums auch nutzen und dürfen die Bücher nicht einfach ins Digitale übertragen", schränkt sie ein. Nicht jeder Zeichner ist von dieser Entwicklung begeistert, andere allerdings entdecken und erobern das neue Medium bereits für sich, wie Harms erzählt. Das hat sich in 20 Jahren Reprodukt nicht verändert: "Die Autoren, mit denen wir arbeiten, sind anspruchsvoll. Sie wissen genau, wie ihre Werke am Ende aussehen sollen."
Quelle: ntv.de