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Was Deutsche zu warmen Klößen macht Expedition zu den Polen

Von Russland gelernt: Der ostpolnische Frauenchor "Jarzebina" singt den EM-Song "Ko ko, Euro spoko".

Von Russland gelernt: Der ostpolnische Frauenchor "Jarzebina" singt den EM-Song "Ko ko, Euro spoko".

(Foto: dpa)

Viele haben es mit Bangen vernommen: Die EM startet in diesem Jahr in Polen. Wo die Menschen Wodka brennen und der Papst vom Dorfplatz grüßt. Doch halt, sind die Schwarz-Weiß-Zeiten nicht längst vorbei? Erwartet uns nicht vielmehr in Polen die nächste Supermacht mit den glücklichsten Menschen Europas? Die Hoffnung für deutsche Auswanderer?

Der zweithöchste Jesus der Welt schaut mit mahnendem Blick gen Westen über das polnische Swiebodzin.

Der zweithöchste Jesus der Welt schaut mit mahnendem Blick gen Westen über das polnische Swiebodzin.

(Foto: picture alliance / dpa)

Es ist schon seltsam. Da teilt Polen fast 500 Kilometer Grenze mit Deutschland, und doch liegt es für manche Deutsche ferner als Russland. Als hätten sich die sepiafarbenen Bilder aus den Zeiten des Kriegsrechts tief eingegraben, als die Wursthaken von der Decke leerer Fleischereien baumelten und General Wojciech Jaruzelski mit großer Sonnenbrille über die Bildschirme flimmerte. Wer heute zugibt, seine Ferien in Polen zu verbringen, muss mit besorgten Blicken rechnen. Wenn, dann fährt man hier zum Tanken hin, zum billigen Einkauf oder aber nun - notgedrungen - zur .

Dabei ist doch alles ganz anders. Wer sich zur EM nach Polen traut, wird sich verwundert die Augen reiben und feststellen: Die Klischees über unseren Nachbarn taugen mal wieder gar nichts. Wie die Realität dort tatsächlich aussieht, lässt sich trefflich in dem neuen Buch "Expedition zu den Polen" des in Polen berühmtesten Deutschen Steffen Möller nachlesen.

Der Kabarettist, Schauspieler und Moderator lässt hier keine wichtige Frage zum Leben in Polen aus. Kann man sein Portemonnaie im Zug auf dem Tisch liegen lassen? Wieso stehen die polnischen Männer mit großen Blumensträußen am Bahnhof, während die deutschen Männer ihre Frauen zur Eile antreiben? Warum gelten die Deutschen als "warme Klöße" und sind dennoch die größeren Romantiker? Weshalb sollte man seine Russischkenntnisse lieber nicht in Polen testen?

Polnischer Abzählreim (sinnfrei)

Trumf trumf misia bela
Misia kasia komfacela
Misia A misia B
Misia kasia komface

Um all das zu beantworten, reist Möller mit dem Berlin-Warszawa-Express von der deutschen in die polnische Hauptstadt. Schon beim Gespräch mit dem polnischen Kellner im Zugrestaurant erwartet ihn der erste Kulturschock. Auf die Frage, wie es gehe ("jak tam?"), gibt es kein routiniertes "gut". Vielmehr verzerrt sich das Gesicht des Kellners in Schmerzen, bevor er hervorstößt: "stara bieda", was so viel heißt wie "alte Armut" oder, im übertragenen Sinne: "beschissen wäre geprahlt". Ein begeistertes Zurschaustellen des eigenen Glücks gibt es (noch) nicht in Polen, genauso wenig wie ein Keep-Smiling-Gebot. "Um es klipp und klar zu sagen: In der Öffentlichkeit gilt konsequentes negative thinking, und das heißt: schonungsloser Realismus mit einer kräftigen Prise Depression", so Möller.

"Polska" ist jeden Blutstropfen wert

Wer auf offener Straße zu viel lächelt, gilt den Polen als verdächtig. Schließlich ist es für sie eine Grundtatsache, dass Polen ein schlechtes Land ist mit miserablen Schulen, miserablen Straßen, miserablen Politikern. Die Regierung und ihre Institutionen ignoriert man am besten, das Steuerzahlen auch. So anarchistisch das Verhältnis zum real existierenden Staat ist, der als Beute dubioser Millionäre und smarter Exkommunisten gesehen wird, so überhöht ist Polen als reine Idee: "Polska" ist heilig und jeden Aufstand, jeden Blutstropfen wert.

Steffen Möller zog 1994 nach Polen, in Filmen und Büchern erklärt er die polnische Seele.

Steffen Möller zog 1994 nach Polen, in Filmen und Büchern erklärt er die polnische Seele.

Aller "alten Armut", allem Schimpfen auf das Land zum Trotz überraschen die Polen aber immer wieder. Bei einer Umfrage zum Lebensstandard kam im Jahr 2010 heraus: In Polen, dessen Einwohner noch immer drei bis vier Mal weniger verdienen als die Deutschen, wohnen die glücklichsten Menschen Europas. Weltweit liegen nur die Einwohner der Vereinigten Arabischen Emirate und Saudi Arabiens vor ihnen.

Wie erklärt sich dieses erstaunliche Glücksgefühl? Möller versucht ein Erklärung: "Glück ist relativ; es entsteht durch Vergleichen." Und da die Polen ihren Lebensstandard nun einmal nicht an dem ihres deutschen Nachbarn messen, sondern an dem ihrer Eltern, haben sie allen Grund zur Freude. Seit dem 1989 erreichen sie Dinge, die sich ihre Eltern nie hätten träumen lassen: Sie können die ganze Welt bereisen, mit japanischen Autos fahren, ihre eigene Firma gründen. Außerdem durchlebt Polen gerade eine der besten Phasen in seiner Geschichte. Nach Jahrzehnten kommunistischer Unterdrückung, nach den durch Deutsche, nach diversen Teilungen ist Polen endlich wieder ein souveräner Staat, der in Europa und die Nato eingebunden ist. Mehr und mehr gilt Polen als Musterland Europas, das sogar die Wirtschaftskrise vergleichsweise gut überstand. Als 2009 die Wirtschaft in allen EU-Ländern einbrach, wuchs sie noch im Musterland Polen.

Polnische Anrede

Wie man die neue Kollegin Anna Kowalska anredet:
1. Tag: Pani Kowalska (Frau Kowalska)
2. Tag: Pani Anna (Frau Anna)
3. Tag: Ania (Annilein)
4. Tag: Ancia (Annchen)
5. Tag: Anka (Annchen)
6. Tag: Aneczka (Annchen)
7. Tag: Anulka (Annchen)
8. Tag: Anula (Annchen)
9. Tag: Anucha, Anusza und so weiter (Annchen)

Nicht zuletzt deshalb malt Möller die Zukunft des Landes so knallig bunt wie die neu gestrichenen Vorortwunder: "Was sich jenseits der Oder abspielt, ist der Aufstieg einer neuen europäischen Supermacht." Und er wagt einen Blick ins Jahr 2040, wenn denn deutsche Putzfrauen die polnischen Großraumbüros durchfeudeln und Lukas Podolski als Chef der deutschen Minderheit im Warschauer Sejm sitzt.

Eine Auswanderung kann Möller, der in Polen zum Fernsehstar wurde, seinen Lesern nur wärmstens ans Herz legen. Und er gibt auch gleich konkrete Tipps. Zum Beispiel sollte man bei der Gründung einer Firma unbedingt noch ein "pol" in den Namen schmuggeln, um deren Erfolg zu sichern. Oder aber auch noch auf dem Bahnsteig ein "Interesik", ein kleines Geschäftchen, durchführen.

"Im Land der emotionalen Intelligenz"

Endstation des Berlin-Warszawa-Express: Der Ostbahnhof in Warschau. Hier können die Deutschen schon Hausschuhe erwerben.

Endstation des Berlin-Warszawa-Express: Der Ostbahnhof in Warschau. Hier können die Deutschen schon Hausschuhe erwerben.

(Foto: dpa)

Und nicht zuletzt muss ein deutscher Auswanderer damit leben können, sich in Polen plötzlich in einem "Netz der Blicke" wiederzufinden. Kaum über der Grenze, erfassen sie einen, taxieren einen von oben bis unten. Jeder beobachtet jeden, die Neugier kennt keine Grenzen. Oder, wie Möller es beschreibt: Immer wenn er sich einbilde, dass die polnisch-deutschen Unterschiede gen Null tendierten, belehrten in fünf Minuten in der Bahnhofshalle von Rzepin, der ersten polnischen Stadt nach der Grenze, eines Besseren: "Ich bin jetzt wieder im Land der Blicke, und in einem weiteren Sinne heißt das: im Land der emotionalen Intelligenz."

Das kann dann soweit gehen, dass einem Wildfremde sagen: "Sie sind auch schon müde!" Die Empathie ist deutlich höher als im nüchternen Nachbarland, zugleich die Empfindlichkeit, wenn solche ausbleibt. Was auch immer wieder polnisch-deutsche Beziehungen (zumindest in ihrer klassischen Konstellation: deutscher Mann, polnische Frau) an ihre Grenzen führt. Wenn eine Polin ihrem deutschen Freund sagt, dass ihr kalt werde, und dieser dann, gar nicht böse gemeint, kontert: "Mir nicht", und sich in seine Jacke schmiegt, lässt das auf lange Sicht Schlimmes ahnen. Komplimente zu machen, das wird spätestens nach der Lektüre dieses Buches klar, ist nicht so die große Gabe der Deutschen. Und jede Frau, die danach hungert, sollte sich schleunigst auf den Weg gen Osten machen.

Überhaupt geht es dort deutlich emotionaler her. Während sich die Polen bei Weihnachtsfeiern in den Armen liegen und mit guten, kaum endenden Wünschen überhäufen, flüchten sich die Deutschen beklommen in Diskussionen über die Standfestigkeit des Weihnachtsbaums: "Der kippt doch gleich um. Man sollte ihn an der Wand festtackern."

Auch wenn vielleicht nicht jeder Polen-Reisende gleich Tipps für die Weihnachtsfeiern und den Umgang mit besitzergreifenden Schwiegermüttern braucht, so ist Möllers Buch auf jeden Fall eine lohnende und unterhaltsame Lektüre. Selbst wer meint, Polen schon gut zu kennen, entdeckt immer wieder Neues und ist traurig, als der Berlin-Warsczawa-Express schließlich am Ostbahnhof in Warschau einruckelt. Wie in seinem Bestseller "Viva Polonia" zeichnet Möller ein treffendes und liebevolles Bild der polnischen und deutschen Mentalitätsunterschiede. Und er macht Lust, sich doch endlich einmal auf den Weg nach Polen zu machen. Schließlich liegt ja bekanntlich die in Warschau.

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Quelle: ntv.de

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