Sarah Polleys "Die Aussprache" "Es war mir wichtig, diese Frauen zu ehren"
09.02.2023, 12:33 Uhr
Autorin und Regisseurin Sarah Polley bei der Premiere ihres Films.
(Foto: IMAGO/ZUMA Wire)
2011 wurden in Bolivien mehrere Männer einer orthodoxen Mennonitengemeinde zu hohen Haftstrafen verurteilt, nachdem sie rund 100 Frauen und Mädchen mehrfach mit einem Tiernarkosemittel betäubt und vergewaltigt hatten. 2018 erschien dann der Roman "Women Talking" von Miriam Toews, dem diese Ereignisse zugrunde liegen. Nun hat die kanadische Schauspielerin und Regisseurin Sarah Polley daraus einen Film gemacht
In die "Die Aussprache" - so der deutsche Titel - müssen acht Frauen über das Schicksal der übrigen weiblichen Angehörigen der Gemeinde entscheiden, nachdem der Missbrauch ans Licht kam und die Täter vorerst verhaftet wurden. Sollen die ihr Leben lang unterdrückten Frauen bleiben und ihren Peinigern verzeihen, sollen sie bleiben und kämpfen oder die Kolonie verlassen und neu anfangen?
Mit ntv.de sprach Sarah Polley über ihre Faszination für diese Geschichte, Gleichberechtigung in Hollywood und die Schwierigkeiten, das Dasein als Mutter und Filmschaffende unter einen Hut zu bekommen.
ntv.de: Mrs. Polley, warum fiel Ihre Wahl ausgerechnet auf das Buch von Miriam Toews?
Sarah Polley: Ich war immer ein Fan der Autorin und so habe ich das Buch sofort gelesen, als es erschien. Ich fand die Fragen, die darin gestellt wurden und die einen zeitgenössischen Bezug haben, einfach toll.
Was hat Sie konkret an dem Stoff fasziniert?
Man kennt die Gespräche, die die Frauen führen, aus der Politik. Immer wieder heißt es, ein Land sei noch nicht bereit für die Demokratie. Das ist falsch. Wer als Mensch geboren wird, ist bereit für die Demokratie. Besonders dann, wenn man in einer Gemeinschaft lebt, in der alle aufeinander angewiesen sind. Ich denke, wir sind in der Lage, uns zusammenzusetzen und Dinge zu klären, einen Weg nach vorne zu finden, selbst wenn wir uns nicht in jedem einzelnen Punkt einig sind. Ich war neugierig auf diese Art von radikaler Demokratie, wie sie in der Geschichte stattfindet, anstatt einer passiven Wahl alle vier Jahre.
Der Film wirkt wie losgelöst von Zeit und Ort. Ging es Ihnen also darum, dass der Zuschauer einen Bezug zu sich selbst herstellen kann?
Ja, es sind kleine Geschichte und sehr spezifische Geschichte für alle. Fragen des Glaubens und der Vergebung, wie wir den Unterschied zwischen individueller Schuld und systemischer Ungerechtigkeit herausfinden, wie wir das auseinanderhalten können. Ich wollte auch nicht ständig das Wort "mennonitisch" verwenden und den Zuschauern so die Möglichkeit geben, sich davon zu distanzieren, auch wenn sich der Film auf reale Ereignisse bezieht - zumindest, was die Gewalt angeht, das Gespräch ist ja fiktiv.
Die Frauen in "Die Aussprache" werden ja nicht nur von ihren Männern unterdrückt, sondern sind auch in ihrem Glauben gefangen ...
Es war mir wichtig, diese Frauen zu ehren. Und den Glauben, wie sie ihn erleben. Um ihren Glauben zu ehren und sich auf ihn zuzubewegen, müssen sie viele der Machtstrukturen, die sich um ihre Religion herum gebildet haben, abschaffen. Aber es geht nicht darum, ihre Religion oder irgendeine andere Religion abzuschaffen. Ich glaube auch nicht, dass sie vor ihrem Glauben davonlaufen. Ich glaube, sie finden einen Weg, sich ihm anzunähern. Im wahrsten Sinne des Wortes.
Was war denn zuerst da? Der Wunsch, zum Film zurückzukehren oder dieses Buch als Film umzusetzen?
Ich habe nicht nach einem Film gesucht, bei dem ich Regie führen kann. Es war definitiv das Buch und die Geschichte, die mich wieder einen Film machen lassen wollten.
Wie hat sich die Rückkehr ans Set dann für Sie angefühlt?
Es war großartig. Es war eine fantastische Gruppe von Leuten, eine tolle Zusammenarbeit. Wir haben gemeinschaftlich auch ein paar Dinge am Set geändert. So haben wir die Arbeitszeiten verkürzt, was wirklich geholfen und die Arbeit zu einer viel glücklicheren Erfahrung gemacht hat. Insgesamt war der Dreh mit nichts zu vergleichen, was ich je zuvor gemacht habe. Diese Art von konzentrierter Erfahrung mit einem so großen Ensemble war eine tolle Sache.
Ihnen persönlich war es wichtig, Ihren Beruf mit Ihrem Muttersein vereinen zu können ...
Genau. Ich habe die vergangenen zehn Jahre für meinen Lebensunterhalt geschrieben, weil ich fand, dass die Arbeitszeiten am nordamerikanischen Filmset unvereinbar damit sind, als Elternteil präsent zu sein. Aber ich wollte das Leben meiner Kinder nicht verpassen, also beschloss ich, mich aufs Schreiben zu konzentrieren. Als dann Francis (McDormand, Produzentin des Films - Anm. d. Red.) und die anderen auf der Suche nach einem Autor und Regisseur waren, war mir klar, dass ich gern beides machen würde. Und das ging nur in einer Welt, in der die Arbeitszeiten eben kürzer sind. Sie haben sich sofort darauf gestürzt, bereit, etwas anders zu machen.
Und, hat es funktioniert?
Ja, es hat wirklich gut funktioniert. Alle waren viel glücklicher, egal, ob sie ihre Kinder, ihre alten Eltern oder ihren Hund sehen und auch noch ein Leben außerhalb des Sets führen wollten. Aber es war auch eine Herausforderung - zusätzlich zu den Pausen für Minderjährige, den Pausen wegen der Masken, Covid. Vorher hatten wir am Tag zehn Stunden Zeit, nun nur noch sechs bis sieben. Und wir hatten nicht etwa mehr Drehtage stattdessen. Aber ich würde es wieder so machen und entsprechend planen.
Es gab außerdem eine Psychologin am Set. Warum war Ihnen das wichtig?
Dr. Laurie Haskell ist eine fantastische klinische Psychologin, die sich auf die Auswirkungen von Traumata auf das Gehirn spezialisiert hat. Sie war von Anfang an dabei, um uns dabei zu helfen, zu verstehen, was mit der Psyche und dem Gehirn dieser Frauen passiert ist und wie sie funktionieren könnten. Wir wollten den Leuten in der Crew und den Schauspielern Werkzeuge an die Hand geben. Die Psychologin war telefonisch immer erreichbar, wenn es Probleme gab. Das hat wirklich geholfen, einen Schutzraum für alle zu schaffen. Es gab uns ein Gefühl der Sicherheit.
Wollen Sie auch das künftig so beibehalten?
Ich denke schon. Es kommt aber natürlich auf das Thema an. Sollte ich eine romantische Komödie drehen, würde ich wohl darauf verzichten. (lacht)
Stichwort #MeToo: Frauen haben es im männerdominierten Filmbusiness noch immer nicht leicht. Hat sich da in Ihren Augen im letzten Jahrzehnt viel verändert oder ist noch viel Luft nach oben?
Ich denke, es gab definitiv einige echte Fortschritte, aber es gibt auch noch einen langen Weg zu gehen. Immerhin werden Gespräche darüber geführt. Aber wir sind noch weit davon entfernt, ein Umfeld zu schaffen, in dem Frauen in jedem Teil des Prozesses so sicher arbeiten können, wie es eigentlich der Fall sein sollte.
"Die Aussprache" ist für zwei Oscars nominiert, in Kategorien, in denen bislang eher wenige Frauen gewonnen haben. Womit rechnen Sie persönlich?
Erstmal ist die Normierung natürlich sehr aufregend und ich war davon schon überrascht. Gerade, weil es ein Film dieses Themas ist und das bedeutet, dass sich viele Menschen mit ihm beschäftigen werden. Das ist für einen Film wie diesen wirklich wichtig. Die praktische Wirkung der Nominierung ist also unbestreitbar. Auf der anderen Seite ... in diesem beziehungsweise dem vergangenen Jahr gab es so viele großartige Filme von Frauen, und es hätte mehr Raum dafür geben müssen. Auch in der Kategorie "Bester Film" hätte die Arbeit einer Frau nominiert werden können. Für "Beste Regie" war zum Beispiel noch nie eine schwarze Frau aufgestellt und ich denke, das ist eine große verpasste Chance.
Mit Sarah Polley sprach Nicole Ankelmann
"Die Aussprache" läuft ab dem 9. Februar in den deutschen Kinos.
Quelle: ntv.de