Erinnerungen an den Bruder Ein Schmähtandler, der nicht am Leben hing
30.01.2022, 16:07 Uhr
Monika Helfers Familie ist randvoll mit liebenswerten Sonderlingen.
(Foto: picture alliance/dpa)
Mit ihren Romanen über ihre Großmutter und ihren Vater hat Monika Helfer ihre Leserinnen und Leser tief bewegt. Jetzt ist "Löwenherz" erschienen, ein Erinnerungsbuch an den Bruder, der sich mit 30 Jahren das Leben genommen hat.
Richard war ein echter Eigenbrötler, so charmant wie rätselhaft. Wegen einer Rachitis-Erkrankung als Kind lief er auf "verqueren Beinen" umher, setzte sich Blindschleichen auf die Arme und summte ihnen etwas vor. Aber eigentlich mochte er gar nicht gehen, am liebsten lag er. Im Liegen malte er dann naive Bilder. Aber wirklich wichtig war ihm kaum etwas, auch nicht das Leben. "Er sah aus wie der hübsche Bruder von Alan Wilson, dem Sänger von Canned Heat, der war damals schon tot, er hatte sich mit siebenundzwanzig das Leben genommen - Richard würde es mit dreißig tun", schreibt Monika Helfer gleich auf den ersten Seiten ihres neuen, bei Hanser erschienenen Romans "Löwenherz".
Das literarische Werk von Helfer war lange Zeit nur ein Geheimtipp. Doch seit zwei Jahren taucht der Name der 74 Jahre alten Autorin aus dem österreichischen Vorarlberg regelmäßig in den Bestsellerlisten auf. 2020 erschien "Die Bagage". Darin erkundet Helfer das ärmliche Leben ihrer Großeltern Maria und Josef, die als Außenseiter am Rande eines Bergdorfes lebten. Der Roman wurde sofort ein riesiger Erfolg, ebenso wie im Jahr darauf "Vati", das dem Vater gewidmet ist, einem Bücher liebenden Kriegsheimkehrer, der am frühen Tod seiner Frau zerbrach.
Wer die beiden Bücher gelesen hat, weiß: Helfers Großfamilie ist randvoll mit liebenswerten Sonderlingen und eigenwilligen Charakteren, die fast alle einen eigenen Roman verdient hätten. Aber dass aus den Erinnerungen an die Familie eine Trilogie werden würde, war ursprünglich nicht geplant. Erst ihr Ehemann, der Schriftsteller Michael Köhlmeier, brachte sie auf die Idee, wie Helfer in "Löwenherz" berichtet: "Nachdem ich Bücher über meine Großmutter und meinen Vater geschrieben hatte, war ich eine Zeit lang sehr unruhig, da hat Michael zu mir gesagt, ich solle ein drittes Buch schreiben, nämlich das Buch über meinen Bruder".
Verrückte Badewannen-Szene
Und dieser Bruder ist Richard, vom Vater manchmal "Löwenherz" genannt und von den älteren Schwestern als Kleinkind vergöttert. Als die Mutter stirbt, wächst der Junge getrennt von den Schwestern bei einer Tante auf. Die Geschwister werden sich fremd. Erst später haben sie wieder etwas mehr Kontakt, es sind die 70er-Jahre, Richard ist ein junger Mann und arbeitet als Schriftsetzer, ab und an hat er mit der Polizei zu tun, weil er kifft.
Für Frauen und Sex ("zu wenig Überraschung") interessierte Richard sich nicht. Aber er wickelte sie dennoch alle um den kleinen Finger: Helfer beschreibt ihn als "Schmähtandler", also als jemanden, der Geschichten erfindet und behauptet, sie seien wahr. Auch das etwas altmodische Wort Luftikus passt zu Richard. Einmal schnappte er sich eine alte Badewanne, die als Tier-Tränke diente, um in ihr über den Bodensee Richtung Rheinfälle zu schippern. Dass er nicht schwimmen konnte, war ihm egal. Als er kenterte, rettete ihn eine hochschwangere Frau aus dem Wasser.
Eben diese Frau, Kitti, stand wenig später vor Richards Wohnung und lud "Putzi 1" bei ihm ab, weil sie ins Krankenhaus müsse, um "Putzi 2" zur Welt zu bringen. Er sollte auf ihre Tochter aufpassen, quasi als Gegenleistung für die Rettung. Putzi, deren richtigen Namen Richard nie kannte, sagte schon bald "Papa" zu ihm. Und Richard nahm die Vaterrolle ohne Zögern an. "Er war Putzis Paradies, und Putzi war sein Paradies", schreibt Helfer. Das Mädchen und Hund Schamasch, der ihm eines Tages einfach zugelaufen war, gaben Richard ein wenig Halt im Leben - bis eine Tragödie auf die nächste folgte.
Melancholie in der Stimme
Vorsichtig schreibend und auf liebevolle Art nähert sich Monika Helfer ihrem Bruder an. Um einen wahren, autobiografischen Kern herum entwickelt sie eine berührende, mit Fiktion angereicherte Geschichte. Immer wieder fügt sie dabei Passagen ein, in denen sie ihre Arbeit und ihr Erinnern reflektiert. Zum Beispiel anhand von Gesprächen mit ihrem Ehemann, der damals noch ihr Liebhaber war. Er hatte sich mit Richard angefreundet und kannte ihn besser als sie selbst, so Helfer.
Das schnörkellos und in diesem hinreißenden Monika-Helfer-Ton geschriebene Buch zu lesen, ist wirklich bewegend. Es zu hören, eröffnet noch einmal eine tiefergehende Emotionalität. Wie schon bei den beiden Vorgänger-Bänden hat die Autorin auch dieses Hörbuch selbst eingesprochen. Mit ihrer rauen, sanften Stimme lässt sie die Melancholie und die immer wieder aufblitzende traurige Heiterkeit der Lebensgeschichte des Bruders spürbar werden. Beim Hören oder Lesen wünscht man sich insgeheim, dass Helfers Familienerkundungen keine Trilogie bleiben werden.
Quelle: ntv.de