Europas absehbare Flüchtlingskrise "Fast könnte man Schadenfreude empfinden"
26.09.2015, 09:42 Uhr
Derzeit befinden sich weltweit knapp 60 Millionen Menschen auf der Flucht - die allermeisten leben in Entwicklungsländern.
(Foto: AP)
Krise - welche Krise? Seit Jahren schlagen Flüchtlingshelfer im Nahen Osten Alarm. Sie brauchen mehr Geld und andere Unterstützung, so ihr Hilferuf. Doch Europa hat nicht hingehört, kritisiert Entwicklungshelfer Kilian Kleinschmidt im Interview mit n-tv.de. Jetzt bleiben der EU mehrere Optionen.
n-tv.de: Zehntausende Flüchtlinge zieht es derzeit nach Europa. Hat Sie der jüngste Flüchtlingsandrang überrascht?
Kilian Kleinschmidt: Nein, nicht im geringsten. Die Krise war seit Langem absehbar - das ist ja das Ärgerliche. Wir haben immer wieder davor gewarnt, dass wenn die Lebensbedingungen noch schlechter werden, die Flüchtlinge hierherkommen.
Hat Europa versagt?
Europa hätte schon viel früher viel mehr machen müssen. Bereits vor einem Jahr ging den Helfern in den Aufnahmeländer, die am meisten betroffen sind, im Libanon, Jordanien, Irak und in der Türkei das Geld aus. Es gab verzweifelte Hilferufe: "Helft uns, damit wir die Menschen aufnehmen können! Helft uns doch bei den strukturellen Problemen!" Doch keiner hat hingehört. Jetzt könnte man fast Schadenfreude empfinden nach dem Motto: "Das habt ihr euch selbst zu verdanken." In der Griechenlandkrise hat die EU bereitwillig Milliarden zur Verfügung gestellt – doch die Flüchtlingskatastrophe hat sie kaum wahrgenommen.
Die Nachbarländer Syriens beherbergen mehr als vier Millionen syrische Flüchtlinge. Wie ist deren Lage?
Die Lage wird immer verzweifelter. Nur ein kleiner Teil der Flüchtlinge lebt überhaupt in Flüchtlingslagern, wo ihre Grundversorgung gesichert ist. Die allermeisten schlagen sich irgendwie durch. Sie bekommen keine oder nur wenig humanitäre Hilfe, weil den UN schlicht das Geld fehlt. Hinzu kommt: In Jordanien und der Türkei dürfen sie gar nicht offiziell arbeiten. Tun sie es doch und werden dabei erwischt, werden ihre Familien ausgewiesen – auch manchmal zurück nach Syrien.
Wie kommen sie dann über die Runden?
Sie schicken ihre Kinder arbeiten. Statt in die Schule zu gehen und zu lernen, müssen diese irgendwie illegal Geld verdienen. Schließlich werden die Familien nicht bestraft, wenn die Kinder bei illegaler Arbeit erwischt werden. Manche verheiraten ihre Töchter früh an reiche Araber. Andere schicken ihre Kinder mit Milizen mit, auch dem Islamischen Staat oder der Al-Nusra-Front. Milizen und religiöse Gruppen werben natürlich auch unter den Flüchtlingen und zahlen den Eltern dann schon manchmal 1000, 2000 Dollar.
Weshalb machen sich so viele Flüchtlinge gerade jetzt auf den Weg nach Europa?

Kleinschmidt arbeitete mehr als 20 Jahre für die UN in Krisenregionen, zuletzt leitete er das Flüchtlingslager Zaatari in Jordanien. Jetzt berät er unter anderem die österreichische Innenministerin in Flüchtlingsfragen.
(Foto: Privat)
Die humanitäre Hilfe im Nahen Osten hat kein Geld mehr, um alle Menschen zu ernähren und die Grundversorgung sicherzustellen. Es fehlen drei Milliarden Dollar – eine lächerliche Summe, wenn man bedenkt, wofür wir hier in Europa Milliarden ausgeben. Viele Flüchtlinge haben außerdem das Gefühl, dass es für sie nicht mehr weitergeht. Sie wollen, dass ihre Kinder regelmäßig zur Schule gehen, sie wollen selbst ihr Studium beenden. Ein deutsches Programm hat es geschafft, dass im letzten Jahr gerade mal 80 Studenten in ganz Jordanien weiterstudieren konnten. Das ist natürlich ein Witz.
Was muss Europa nun tun?
Es muss legale Möglichkeiten schaffen, damit die Flüchtlinge hierherkommen können. Diejenigen Flüchtlinge, bei denen klar ist, dass sie Asyl erhalten werden, müssen wir so schnell wie möglich in den Arbeits- und Ausbildungsprozess einbinden. Das ist die beste Integration. Natürlich haben nicht alle Flüchtlinge eine tolle Ausbildung, aber sie sind ja junge Menschen und junge Menschen sind ausbildungsfähig. Da muss auch die Wirtschaft investieren. Egal, ob die Flüchtlinge hierbleiben oder später in ihre Heimat zurückkehren: Die Welt wird auf alle Fälle davon profitieren, wenn sie gut ausgebildet sind. Es ist eine Investition, die viel effektiver als Entwicklungshilfe ist.
Sie selbst haben lange das größte syrische Flüchtlingslager in Jordanien geleitet. Was empfehlen Sie für den Umgang vor Ort mit Flüchtlingen?
Die Flüchtlinge sind Menschen mit unglaublichen Kräften, die selbst für sich verantwortlich sein wollen. Sie wollen keine Almosen, sondern ihre Arbeitskraft und Intelligenz einsetzen. Wir müssen aufhören, die Flüchtlingsunterkünfte wie Abstelllager zu gestalten. Es ist nicht nur eine logistische Aufgabe, es geht nicht nur um Zahlen, zugeteilte Kalorien und Trinkwasserrationen. Wir müssen begreifen, dass wir es mit Individuen zu tun haben. Die Flüchtlinge haben oft alles verloren, ihre Familie, ihre Heimat, und haben meist das Gefühl, ihre Identität irgendwo zurückgelassen zu haben. Für sie ist es daher ein großes Thema: Wie schaffe ich es, als Mensch angesehen zu werden – und nicht als Teil einer anonymen Flüchtlingsmasse?
Was gibt es für langfristige Möglichkeiten, um die Flüchtlingskrise abzumildern?
Wir brauchen einen Stabilitätspakt für die ganze Region. Die EU zusammen mit der Weltgemeinschaft muss in die Ursprungsgebiete investieren, sie muss strukturelle Hilfe leisten und die regionale Zusammenarbeit fördern. Schließlich wollen die Flüchtlinge oft in der Region bleiben. Auch die Wirtschaft ist gefragt. Die Krise muss so ernst genommen werden wie Griechenland.
Es gibt Befürchtungen, dass sich unter die Flüchtlinge auch radikale Islamisten mischen. Sehen Sie das auch so?
Natürlich muss man sich fragen: Gibt es die Gefahr der Radikalisierung unter Flüchtlingen und warum radikalisieren sie sich? Man muss sie halt schnell aus den Flüchtlingsunterkünften kriegen. Bis jetzt waren es aber nur wenige und die Geheimdienste sind ziemlich da hinterher.
Glauben Sie, dass die Flüchtlinge irgendwann in ihre Heimat zurückkehren?
Natürlich. Gerade die Syrer haben immer wieder gesagt, wie sehr sie an ihrem Land und an ihrer Region hängen. Nur die Perspektivlosigkeit ihrer Situation hat dazu geführt, dass sie sich auf den Weg gemacht haben. Ich kenne viele junge Syrer, die sagen: "Sobald wir können, gehen wir wieder zurück. Aber wir wollen bis dahin unser Leben nicht aufgeben."
Mit Kilian Kleinschmidt sprach Gudula Hörr
Quelle: ntv.de